Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe Band 2
Freund Juarroz:
Verzeihen Sie, dass ich so lange brauchte, um Ihnen zu antworten, aber erst kürzlich kehrte ich nach Paris zurück, nachdem ich einige Monaten in Wien arbeitete. Seit geraumer Zeit wollte ich Ihnen sagen, dass mir die Zeitschrift sehr gefällt, weil ich aus der Ferne die neuen und jungen Stimmen Argentiniens vernehmen kann. Aber ich schreibe Ihnen jetzt aus einem anderen, dringenderen Grund: ich habe gerade die ZWEITE VERTIKALE POESIE gelesen und bin noch ganz fasziniert davon, ohne jenen Schritt nach hinten zu machen, den wir unumgänglich tun, nachdem uns ein Poet ein wenig auf dem Weg zur großen Wahrheit seiner Welt, der Welt, vorwärtskommen ließ. Ihre Gedichte gehören für mich zum Höchsten und Tiefsten (das eine wegen des anderen, natürlich), das in diesen Jahren in der spanischen Sprache geschrieben wurde. Ich hatte stets den Eindruck, dass Sie es schaffen, das, was Sie suchen, zu Gesicht kommen zu lassen in einer Sichtweise, die völlig frei ist von Unreinheiten (wörtlichen, dialektischen, historischen) und die in der Morgenröte unserer Welt die vorsokratischen Poeten hatten, jene, die die Professoren als Philosophen bezeichnen: Parmenides, Tales, Anaxagoras, Heraklit.
Ihnen (und ihnen) genügt es, sich umzuschauen, damit jede prosaische Sicht in Stücke zerfällt angesichts dieser gesamten Aneignung des Daseins durch die Poesie. Ich habe die Gedichte laut gelesen, was mir mehr liegt (andere entziehen sich mir oder verlangen nach einer Interpretation, was vielleicht ein Selbsttrost ist, weil sie nicht gleich intuiert werden können). Und jedesmal hat sich diese überraschende Empfindung der Verwunderung, Verzückung und Anverwandlung eingestellt. Ich habe immer eine Poesie geliebt, die aus der Umkehrung der Zeichen entsteht; der Gebrauch der Abwesenheit bei Stéphane Mallarmé, einige „Anti-Essenzen“ bei Macedonio Fernández, die Pausen in der Musik von Anton Webern. Sie aber steigern jene Umkehrungen bis zum Unglaublichen, was in anderen Händen lediglich als Wortspiel endet. Und dann sind jener sehende Blick und der Blick, der nicht sieht, einmal in einem gleichen Faden zusammengedreht, etwas wunderbar Fruchtbares, eine Erfindung des Seins. Seit langer Zeit habe ich keine Gedichte mehr gelesen, die mich derart berührten und begeisterten wie Ihre, und das sage ich Ihnen in dieser Eile und ohne erneutes Nachlesen, denn am Ende wird man ganz dumm und so viele wohlklingende Worte beängstigen. Aber ich fühle, dass Sie mir glauben werden und dass wir nunmehr Freunde sind, und eine Umarmung.
Julio Cortázar
Stimmen
Roberto Juarroz
Einfach wunderbar klare Gedichte, Nähe und Weite in einem, worin alles ineinander übergeht, die Einsamkeit eine Prüfung der Wirklichkeit ist, mit dem Gedanken etwas geöffnet wird zwischen dem Wort und der Stille. Eine Philosophie des Blickes, der sich beim Schauen selber erschafft. Poesie des Alltags, wenn die Dinge in ihre Anwesenheit fliehen, Lichttheorien, einen das Sehen lehren: „Eine brennende Lampe/ mitten am Tag,/ ein verlorenes Licht im Licht“.
Walle Sayer
Roberto Juarroz schreibt mit einer bestürzenden Klarheit über die großen Fragen und wie sie in der Sprache erscheinen. Eine Mischung aus Mystik und Klarheit, von Philosophie und von Anschauung durchtränkt, ein intellektuelles und hohes sinnliches Vergnügen.
Michael Krüger
ÄUSSERSTE GRENZEN SPÜREN
(Über Roberto Juarroz Vertikale Poesie)
In einem Schreibseminar vor einigen Jahren regte einer der Teilnehmer an, mehr philosophische Texte zu lesen, statt Einzelkritik zu betreiben. Er nannte Epikur, Seneca, Aristoteles, Schopenhauer – Philosophen, die ihre Philosophie aus der Lebenspraxis entwickelten und nicht Systeme der Moral, der Wirtschaft oder der Gesellschaft antizipierten. Die Antwort war seltsam, es war dieses bekannte Vorurteil, dass die Dichtung dadurch ‘verkopfe’. Der Kult des unmittelbaren Gefühls wurde zelebriert, der aphoristischen Parlandozeile, der gedanklichen Schlichtheit. Für den Argentinier Roberto Juarroz (1925-1995) ist in der Dichtung nichts wichtiger als das Nachdenken über den philosophischen Zustand des Menschen und seine existenzielle Haltung, seine Dichtung ist eine spezielle Form der Philosophie. Er denkt den Existenzialismus neu, nicht vom Grund einer gesetzten Annahme her, er denkt ihn in Bewegungen, in unmittelbaren körperlichen Prozessen.
Juarroz ist ein ausgesprochen kühner Dichter, dem es allein um die Frage geht, wie man das menschliche Dasein in seiner Tiefe und seinen Widersprüchen erfassen kann. Er hat dazu die Vertikale Poesie erfunden. Vertikal bedeutet, Gedichte wie Sonden in die Wirklichkeit, die menschliche Natur, das was man erkennen kann, zu legen.
Gott ist ein wiederkehrendes Element bei Juarroz, Gott aber nicht in Verfügung für dieses und jenes (menschliche) Begehren, ja Gott wird durch radikale Gottkritik erst erkennbar. Genauer – in der Kritik an dem, wie sich Menschen Gott vorstellen. Juarroz praktiziert die radikale Gegendichtung zu allem emotional Erlebten, die radikale Kritik auch an allem Erkennenwollen, von dem was Gott sagt und was er angeblich will. Juarroz dekonstruiert den Gottesbegeriff – aber nicht dadurch, dass er Gott verwirft oder wie es heute Mode ist, durch biologische und naturwissenschaftliche Parameter substituiert, er will etwas Paradoxes. Gott ist da und er ist nicht da, Gott ist fern und ist nah, Gott ist nicht und ist, Gott ist menschliche Projektion und zugleich etwas Anderes. Gott ist ein Wort, aber ohne mythologischen Bezug, zu Gott gehört der Nichtgott und umgekehrt. Gott ist konkret in seiner Nichterkennbarkeit.
‘Das Licht spielt in der Nacht mit meinem Blut, / aber ich bin nicht Gott, um es zu erlösen/ und ich möchte auch keinen ausgeborgten Gott …,/ aber manchmal berühre ich Gott mit den Füßen, wenn ich barfuß laufe.’
In der Edition Delta sind nun zwei Bände der Vertikalen Poesie von Roberto Juarroz erschienen, Vertikale Poesie & Zweite vertikale Poesie (Band 1), Dritte Vertikale Poesie & Vierte vertikale Poesie (Band 2), übersetzt und herausgegeben von Juana und Tobias Burghardt. Eine großartige und sprachlich wunderbare Leistung, die die Übersetzer und Herausgeber hier geschaffen haben. Obwohl Juarroz’ Werk zur Weltliteratur gehört, ist seine Dichtung in Deutschland wenig bekannt. Um so schöner, dass die deutschen Leser die ersten zwei Bände (es gibt im Spanischen im Gesamtwerk noch weitere Bände der Vertikalen Poesie) nun vorliegen haben.
Dichtung ist bei Juarroz der phänomenologischen Sinnfrage ähnlich. Er geht von den konkreten Dingen aus, von Körpern und Körpererfahrungen. Spur, Tastsinn und Blick, Bejahung und Verneinung, Wahrheit und Täuschung, aus diesem dialektischen Gefüge kommt seine Dichtung. Äußerste Grenzen der Gedanken, Dichtung im Raum und Nichtraum, Vakuum und Fülle. Juarroz bat wie Dante eine Welt- und Erkenntnisdichtung im Sinn. Dante steht am Anfang der Renaissance, als der Mensch seine ‘selbstverschuldete Unmündigkeit’ (Kant) abstreift. 1m 21. Jahrhundert ist die Taubheit und Blindheit gegenüber der inneren und äußeren Welt zu nennen, die Taubheit gegenüber der Natur und der Lebendigkeit – all dem gegenüber, was keinen technischen oder ökonomischen oder machtgestützten Vorteil bringt. Juarroz gleicht Dante, er hat keinen Vergil, der ihn begleitet, Vergil ist hier radikal mathematisiert zugunsten einer vertikalen Linie, die sich von oben nach unten oder unten nach oben durch das dialektische Gefüge seiner Dichtung zieht und alle Gott-, Körper- und Lebensdinge in einer großen poetischen Sondierung umfasst. Juarroz hat die Seins-Erkenntnis zum Ziel, die durch große Dichtung entsteht.
Matthias Ulrich, NOXIANA – Nr. 29, Zeitschrift für Literatur und Zeichnung, Winter 2014/2015
Argentinien – das Land der Bücher
In kaum einem anderen Land wird so viel gelesen und geschrieben wie in Argentinien. Gleich mehrere Verlage haben diese Vielfalt für sich entdeckt und führen regelmäßig argentinische Schriftsteller in ihrem Programm. Neben Borges ist Cervantes-Preisträger Juan Gelman einer der großen Autoren Argentiniens – er ist Teil des umfangreichen Verlagsprogramms des Literaturverlages Edition Delta. Hier erscheinen außerdem die Argentinier Alberto Szpunberg, und der mehrfach ausgezeichnete Roberto Juarroz. Die Buchmesse lädt also dazu ein, sich in die argentinische Literatur einzulesen.
Stefanie Schäfer (YAEZ Die Jugendzeitung – Buch, September/Oktober 2010)