Hodiezentrik und Klickseligkeit

Hodiezentrik und Klickseligkeit von Karl,  Michael
Das Kleben an der Gegenwart (Hodiezentrik) und den digitalen Medien (Klickseligkeit) wird in diesem neuen Essay-Band mit 21 Rezensions-Florilegien als die augenfälligste Veränderung unserer Kultur angesehen und hat die Auswahl der Lektüren bestimmt. Jenes Kleben verändert unter unseren Augen und – ob wir wollen oder nicht – mit unserer Beteiligung das alte Europa in früher nicht vorstellbarer Weise. Ein wichtiges Antriebsmoment ist ganz offensichtlich technologischer Natur, verspricht aber auch geschäftlich reiche Beute. Offenbar hat es auch die Eigenschaft, andere Schwungräder zum Stillstand zu bringen, zumal das Lesen von Büchern, die altehrwürdige Lesekultur oder, allgemeiner, den Umgang des Menschen mit der Realität über die Abstands- und Platzhalter der Buchstaben. Lange Texte werden als Bleiwüsten, gute Menschen als Gutmenschen diffamiert. Wer liest, stiehlt dem lieben Gott, an den keiner mehr glaubt, wertvolle Zeit, deren sinnvolle Verwendung mit immer besseren Präzisionsinstrumenten unter Bewachung steht. So gesehen macht es Sinn, dass wir die Schulen mit Digitalisierungswellen überziehen. Interessant ist dabei der Aspekt einer digitalen „Kultur der Vergesslichkeit durch Angebotsüberfülle“. Das leistet Amnesien Vorschub und würde Anamnesen behindern, falls wir eines Tages aufwachten und die Folgen unseres absichtslosen Tuns erkennten. Gedächtnis, Erinnerung und Buchstaben gehörten als Ensemble seit Jahrhunderten zur Grundausstattung europäischer Bildungsanstrengungen. Fielen sie weg, obsiegten dann Spontaneität und Zerstreuung über Verlässlichkeit und Aufmerksamkeit? Müssten sich dann alle Tattoos auf die Haut brennen als tribales Gegenmittel zum grassierenden Gedächtnisschwund – mein eigener Körper als ein letztes Reservoir für Lebenssinn und privates Gedächtnis? Aber wer genau hat das gewollt, geplant und über welche Kanäle weltweit durchgesetzt? Waren es wieder einmal, man kann es nicht mehr hören, die „Märkte“, die angeblich immer genau wissen, was die Stunde geschlagen hat? Europas Weg wäre dann vom Christentum (Seelenheil) über das Konsumententum (Körperwohl) in das „Heutetum“ (Allgegenwart, Hodiezentrik) gegangen, was auch eine Leistung ist. Die letztere Etappe ist in Romanform schon 1932 gestaltet worden, in Huxleys "Brave New World". Kernsätze: "History is bunk" und "FORD (der Autobauer) is LORD (der neue Gott)". Eine solche Welt ist zwar sicher neu, schön ist sie wahrscheinlich aber nicht.
Aktualisiert: 2022-05-26
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Fabrikinspektoren in Preußen

Fabrikinspektoren in Preußen von Karl,  Michael
Der Autor untersucht erstmals die personelle Seite der Fabrikinspektion (Gewerbeaufsicht), die seit 1832 die Kinderarbeit und seit 1870 die Gefahren der Großtechnologie und die Einhaltung der Sozialgesetzgebung zu überwachen hatte. Die Auswertung einer Vielzahl von Personalakten nach der kollektivbiographischen Methode zeigt den Prozeß der Entstehung und des Wandels einer Behörde einmal nicht als Folge von Gesetzen und Verordnungen, sondern im Spiegel von individuellen wie kollektiven Lebensläufen und in den historischen Handlungsspielräumen einer sich konstituierenden sozialen Gruppe im preußisch-britischen Vergleich.
Aktualisiert: 2023-02-01
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Auge und Geist. Können Bilder sprechen?

Auge und Geist. Können Bilder sprechen? von Karl,  Michael
Zu Ernst Barlachs Holzfiguren gehört bekanntlich die Holzplastik des Lesenden Klosterschülers aus dem Jahr 1930, einer Ikone aus der Zeit der Gutenberggalaxis, die auch in Alfred Andersch‘ Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ von 1957 eine wichtige Rolle spielt. Springen wir in unsere Zeit, sind die Bücherregale leergefegt und die Klosterschüler in die Umschulungsmaßnahmen der Agentur für Arbeit einbezogen, damit sie zu nützlichen Helfern beim Zerstören der Welt durch materielle Hyperproduktion werden können. Denn eine andere als eine nützliche Bildung können wir uns nicht mehr vorstellen, sodass niemand mehr zu Hause bleiben kann und alle losfahren müssen, um Grundstücke zu bebauen, Flugzeuge zu starten oder Sozialprodukte zu steigern. Die Ökonomisierung von allem ist uns prächtig gelungen – chapeau! Leider hat der Zauberlehrling den Zauberspruch zum Stoppen des Ganzen zu lernen versäumt und muss nun zusehen, wie ihm die Wachstumsraten um die Ohren fliegen, seien es demografische, migrationsspezifische oder eben umweltbelastende. Greta Thunberg, eine 16-jährige Mischung aus der Garbo und Jeanne d‘Arc, bildungsbürgerlichem Elternhaus entstammend, das früher die Partei der Grünen gewählt hätte, führt nun einen Kinderkreuzzug gegen die Umweltsünden der Väter an, als kehre das Jahr 1968 zurück, als Väter auch buchstäblich Leichen im Keller hatten, zu denen sie sich aber nicht bekennen wollten. Dabei lässt sich die Jugend in den SUVs der Eltern zur Demo fahren oder von ihr abholen, und für jede Urlaubsreise wird selbstredend ein „Flieger“ zum Einsatz kommen. Und nicht nur in der Autoindustrie wird inzwischen so skrupellos und ohne jedes Schuldbewusstsein betrogen, dass sich die Kabelbäume biegen, offenbar nach einem bekannten pseudoliberalen Motto des Enrichissez-vous. Diese Welt ist verrückt geworden, verrückt vor Aktivitäten und Aktionismen. Deshalb scheint es mir auch in diesem Essay ratsam, Morsezeichen aus der Gutenberggalaxis auszusenden und den Rat zu geben, doch wieder in die Bücher zu schauen, statt auf den Globus zu starren, etwa „um dich zu sehen, törichte Erde“ (Boethius). Das Angebot einer Gesamtschau, das solche Bücher dann anbieten können, mag nicht in jedem Fall zufriedenstellen, aber in einer solchen Zeit sollte man den Stimmen der Mahner wieder größeren Respekt zollen und etwa Hermann Kinders scherzhaften Rat hören, dem „Auge zur medialen Fastenkur“ einen Aufenthalt „am Nordkap“ zu verordnen. Auge und Geist müssen wieder lernen, aufeinander mehr Rücksicht zu nehmen. Wer etwas erlebt hat, muss es anschließend nach den Regeln der abendländischen Kultur verarbeiten, damit er die Kontrolle nicht verliert und nicht zum Getriebenen wird. An diese Tradition knüpfen die hier vorgelegten sechzehn Buchbesprechungen frohgemut an. …
Aktualisiert: 2020-12-10
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Erleben erwarten erinnern – Im Bermudadreieck der Zeit

Erleben erwarten erinnern – Im Bermudadreieck der Zeit von Karl,  Michael
Wer schon viele Terminkalender im Regal stehen oder in der Schublade liegen hat, wird selten darin blättern und ist in unseren Tagen eher wenig geneigt, über das Vergehen der eigenen Lebenszeit anders als oberflächlich nachzudenken. Schließlich ist in einer von vernetzten Personalcomputern und digitalen Oberflächenreizen übervollen Gegenwart kein Mangel an Ablenkung. Fast schämen sich gerade älter werdende Männer, denen es ihr Leben lang an Beruf und Fitness nicht gemangelt hat, auch hierzulande, sich den Tribut einzugestehen, den die erfüllten Lebensjahre in der Form der gefüllten Terminkalender ihnen abgefordert hat. Ist auch Deutschland inzwischen zu einem Land geworden, auf das Cormac McCarthys Buchtitel passen würde – No Country for Old Men? Beim Ausloten solcher und anderer Fragen beruft sich der hier schreibende Essayist auf literarische und wissenschaftliche Referenzen aus verschiedenen Kontexten und stößt dabei auf einige Überraschungen, von denen nicht die geringste jene sein dürfte, dass es den Historikern bisher noch nicht gelungen ist, eine zuverlässige Theorie der Zeit zu entwickeln, ja dass sie diese Fragestellung vor nicht allzu langer Zeit erst für sich entdeckten. Der Gedankenspaziergang, der hier unternommen wird, hält sich zwar im Gelände eines eigentlich uferlosen Themas auf, beabsichtigt aber nicht, dieses topografisch zu erschließen oder fröhliche Wandersleut mit einer soliden Wanderkarte auszustatten. Dem homo viator einige subtile Geländehinweise mit auf seinen Weg zu geben, das wird hier allerdings schon beabsichtigt. Außerdem soll der Versuch unternommen werden, einigen Heroen der eigenen akademischen Ausbildung noch einmal in ihre Gefilde zu folgen, bevor ihnen der postmoderne und neoliberale Zeitgeist endgültig den Garaus macht. Eine Welt ohne Bücher und ohne so illustre Autoren wie Arno Borst, Aaron Gurjewitsch, Eric Hobsbawm, Johan Huizinga, Hans Robert Jauß, Uwe Johnson, Reinhart Koselleck, Jacques Le Goff, Thomas Mann, Hans Maier, Christian Meier, Thomas Nipperdey, August Nitschke, Gustav Seibt, Rolf Peter Sieferle, E. P. Thompson, Harald Weinrich u.a. verlässt man ja leichteren Herzens, als wenn Geistesgrößen dieses Kalibers (oder deren Nachfolger mit ähnlicher Kalibrierung in der nächsten Generation) im Tagesgeschäft zwischen Investment und technologischem Großprojekt noch irgend eine Rolle spielten. …
Aktualisiert: 2020-09-17
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Ein Unbehagen in der Kultur

Ein Unbehagen in der Kultur von Karl,  Michael
Der Essay eines betroffenen Deutschlehrers geht von der Frage aus, warum der Roman ‚Agnes’ des Schweizer Autors Peter Stamm zu einem erfolgreichen Buch wurde, das seit 2012 in der Kursstufe des Bundeslandes Baden-Württemberg als Schwerpunkt zur Pflichtlektüre gehört und von allen Abiturienten des Bundeslandes gelesen werden muss. Im ersten Teil seines Essays unterzieht der Autor Michael Karl den Roman einer genauen Lektüre und fördert dabei zahlreiche Ungereimtheiten zutage, die ihn dazu veranlassen, in einem zweiten Teil seines Essays vor allem der Frage nachzugehen, was der Erfolg des Werkes über den Zustand der Kultur aussagt. In Anlehnung an einen kulturkritischen Text des Wiener Arztes Sigmund Freud sucht Karl in „Ein Unbehagen in der Kultur“ einigen kulturellen Strömungen zu folgen, die in den letzten dreißig Jahren, die er für ein esoterisches und neoliberales Zeitalter hält, vorherrschend wurden, sodass sich ein Roman durchsetzen konnte, der in kunstvoll arrangierten, aber selbstbezüglichen Kreisbewegungen sich um eine leere Mitte dreht und statt von Menschen zu handeln nur noch virtuelle Kunstfiguren in die Kulissen stellt. Eine auf Wirklichkeit verzichtende Hohlformkunst lässt die Menschen im Stich und wird dazu beitragen, dass Leser sowohl ihr persönliches Gedächtnis als auch ihren individuellen Lebensbezug verlieren. „Das Leben, das so leicht verschwindet in der Armut unserer Sprache, bleibt unwirklich, unerlöst in diesem Verschwinden.“ (Gustav Seibt) Karls Standpunkt ist deutlich: Mit dem Abiturtext „Agnes“ sei das Zeitalter der Avatare angebrochen. Eine Kultusbehörde, die ihre Amtsmacht dafür einsetze, gehöre in die Wüste geschickt.
Aktualisiert: 2018-07-12
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Naturzeit und Sinnlichkeit. Literatur zwischen opaker Realität und humaner Selbstbestimmung

Naturzeit und Sinnlichkeit. Literatur zwischen opaker Realität und humaner Selbstbestimmung von Karl,  Michael
Dem Untergang der Gutenberg-Galaxis trauert am Beginn des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung niemand mehr nach, am wenigsten die höheren Schulen. Wer etwa im Bundesland Baden-Württemberg, von dem dieser Essay seinen Ausgang nimmt, in diesen Tagen sein Deutschabitur schreibt, hat es in vier von fünf vorgelegten Angeboten der Prüfungskommission mit Lese-Häppchen zu tun – mit Kurzprosa, Lyrik, Sachtext oder Essay-Schnipseln. Es lebe der "Homo videns", dessen Augen sich nicht in den Bleiwüsten der romanhaften Wortwelten abnutzen sollen. Steht am Ende dieser umgepolten Bildung der angepasste Augenmensch als Krönung der Schöpfung von Darwins Gnaden, der immer sofort erkennen kann, was man als Nächstes von ihm erwarten wird? Der vorliegende Essay eines besorgten Deutschlehrers will trotz allem einen Ausweg suchen und die überschaubaren Benutzeroberflächen von Lyrik und Kurzprosa auf ihr Potenzial für die Ausbildung von weniger duldsamen und vermehrt wortskeptischen Augenmenschen untersuchen.
Aktualisiert: 2020-05-26
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Fabrikinspektoren in Preußen

Fabrikinspektoren in Preußen von Karl,  Michael
Der Autor untersucht erstmals die personelle Seite der Fabrikinspektion (Gewerbeaufsicht), die seit 1832 die Kinderarbeit und seit 1870 die Gefahren der Großtechnologie und die Einhaltung der Sozialgesetzgebung zu überwachen hatte. Die Auswertung einer Vielzahl von Personalakten nach der kollektivbiographischen Methode zeigt den Prozeß der Entstehung und des Wandels einer Behörde einmal nicht als Folge von Gesetzen und Verordnungen, sondern im Spiegel von individuellen wie kollektiven Lebensläufen und in den historischen Handlungsspielräumen einer sich konstituierenden sozialen Gruppe im preußisch-britischen Vergleich.
Aktualisiert: 2023-04-04
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