Facetten 2022

Facetten 2022 von Adler,  Otto Johannes, Drumbl,  Andrea, Fischer,  Eva, Füssel,  Dietmar, Haider,  Lydia, Keszner,  Mario, Klein,  Erich, Leisch,  Peter, Lichtenauer,  Fritz, Meindl,  Dominika, Menzinger,  Martin Klaus, Neundlinger,  Helmut, Niederberger,  Lisa-Viktoria, Perfahl,  Irmgard, Perfahl,  Roswitha, Popp,  Fritz, Pramhas,  Hildegard, Rager,  Wilhelm, Rizy,  Benjamin, Silberer,  Renate, Steinbacher,  Christian, Stöger,  Herbert Christian, Sturm,  Martin, Titelbach,  Ulrike, Veichtlbauer,  Ortrun, Wall,  Richard, Zanon,  Katharina, Zemme,  Oskar, Zipko,  Andrea
Wer von der blauen Blume träumt, heißt es, muss verschlafen haben. Allen diesbezüglichen Verdikten und kategorischen Bestimmungen in Sachen Literatur steht die nicht triviale Tatsache entgegen, dass ständig weitergeschrieben wird. Gedichte, Erzählungen, so vielfältig in Form und Inhalt wie eh und je, auch wenn alles Schreiben seit geraumer Zeit um den prekären eigenen Status Bescheid weiß. Das trifft auch auf die dreizehn Autorinnen und dreizehn Autoren der FACETTEN 2022 zu. „Corona“, „Fake News“, „Binäre Codes“, „WhatsApp“ werden am Beginn von Richard Walls großem, aus zwölf Gedichten bestehendem Zyklus „Im Schatten der Jahre“ angesprochen, um dann zu den scheinbar unwichtigen, eigentlichen Fragen zu kommen: „Wer raucht noch Zigaretten in der hohlen Hand? / Wer trägt noch Sockenhalter, Gamaschen, und bewegt / Sein Steyr-Waffenrad nicht nur sonntags übers Land?“ Auch Ulrike Titelbach bestätigt in hochpoetischen poetologischen Fragmenten die angebrachte Skepsis: „Poesie vermag kein verwelktes Blatt zur Fotosynthese zu bewegen.“ Der einzige Trost, den sie – sollte das je die Aufgabe von Literatur gewesen sein – zu bieten hat: „Mit Poesie lässt sich kein Galgen errichten.“ Eine bemerkenswerte Warnung an Konsumentinnen und Konsumenten von Literatur findet sich bei Otto Johannes Adler: „LESEN MACHT DICK!“ Doch der Autor schafft auf subtile Weise Abhilfe, indem er seine mit einem monströsen Satzgebilde anhebende Erzählung in dreißig Schritten abspeckt, um sie auf deren Titel engzuführen: „2 Wörter, 18 Zeichen. Zunehmend weniger“. Dominka Meindl, die längst den Titel einer amtlichen Stadtschreiberin des Weltalls in Linz verdient hätte, macht mit einer Tirade über den „Schlaf des Neobiedermeier“ unmissverständlich klar, worum es ihr (nicht nur) in der Literatur geht: „Ich taumelte gegen eine Tür, darin lagen die Leichen meiner politischen Gegner, sehr, sehr peinlich, ich möchte nicht darüber reden, der malträtierte Leib Putins ganz oben, darunter wahrscheinlich rechtsextreme Innenminister und dergleichen, Lukaschenkos, US-Präsidenten, Gotteskrieger, jugendlich-konservative Erlöserfiguren, ich wollte es sogleich wieder verdrängen, wen ich da schon in Gedanken entleibt hatte.“ Wurde Philosophie einst als Fassen der Zeit in Begriffe definiert, eine mögliche Aufgabe von Literatur ist es, sie als Erzählung zu begreifen. Das schließt auch die Vergangenheit mit ein, die 2022 auf gespenstische Weise (obschon nicht zum ersten Mal) als Krieg nach Europa zurückkehrte. Im umfangreichen, penibel recherchierten Beitrag der Historikerin und Anthropologin Ortrun Veichtlbauer kehrt der aus dem Innviertel stammende Bauer Anton aus dem 1. Weltkrieg vom Balkan und aus Russland in die Heimat zurück. Das Chaos das sich dem Heimkehrer 1918 in Linz bietet, erinnert in mancher Hinsicht an Fernsehbilder aus der Gegenwart, auch wenn diese sich heute einige hundert Kilometer weiter östlich abspielen: „Alle Straßen, Wege und Straßenbahnwagen in Richtung Bahnhof waren mit Soldaten überfüllt, die ab den frühesten Morgenstunden mit vollgepfropften Rucksäcken und Koffern zu den Zügen eilten, den Platz vor dem Aufnahmegebäude belagerten, die Korridore, Warteräume und die Bahnhofsrestauration. (…) An manchen Nachmittagen reisten bis zu 40.000 Soldaten durch Linz, die Züge von den Räderachsen bis auf die Waggondächer besetzt. Manche Transporte führten ganze Viehherden, manche Haubitzen und Maschinengewehre mit. Vielfach schossen die Durchfahrenden, denen die Waffen nicht abgenommen werden konnten, bei Ankunft und Abfahrt mit scharfer Munition in die Luft. Abenteuerliche Szenen unter dem Pfeifen der Züge.“ Der Bogen der historischen Biografie des Bauernburschen aus St. Pantaleon, der wegen Hörens von Feindsendern vernadert wird und im Gefangenhaus Linz landet, führt bis ins Jahr 1941. Historia magistra vitae, besagt ein alter Spruch: Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens. Veichtlbauer stellt ihrem erzählerischen Essay (dessen erster Teil in den Facetten 2021 nachzulesen ist) ein rabiateres, in allen Zeiten gültiges Motto voran: „Wer gegen den Wind brunzt, macht sich leicht nass.“ 2022 war auch ein Jahr der Verluste. Fritz Lichtenauer erinnert an den am 2. März verstorbenen Künstler und Erfinder der „taktilen Poesie“ Josef Bauer, Christian Steinbacher verfasste für den am 23. März verstorbenen Konzeptkünstler und Maler Josef Ramaseder eine Gedenknote. Der Bildteil der FACETTEN 2022 zeigt Arbeiten aus dem Nachlass des viel zu früh verstorbenen Autors und Künstlers Walter Pilar (1948–2018). ( im Vorwort)
Aktualisiert: 2023-01-12
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Facetten 2020

Facetten 2020 von Adler,  Otto Johannes, Dolovai,  Verena, Doms,  Stephanie, Drumbl,  Andrea, Fellnhofer-Lamm,  Ulrike, Fischer,  Eva, Flam,  Angela, Füssel,  Dietmar, Habringer,  Rudolf, Haider,  Lydia, Keszner,  Mario, Klein,  Erich, Leisch,  Peter, Menzinger,  Martin Klaus, Mitterndorfer,  Kurt, Neundlinger,  Helmut, Niederberger,  Lisa-Viktoria, Oltay,  Robert, Peschka,  Karin, Pramhas,  Hildegard, Purviance,  Susanne, Rager,  Wilhelm, Reiser,  Stefan, Riese,  Katharina, Rizy,  Benjamin, Silberer,  Renate, Steinbacher,  Christian, Stöger,  Herbert Christian, Veichtlbauer,  Ortrun, Wall,  Richard, Widder,  Bernhard, Wilbertz,  Georg, Wurzer,  Katharina, Zanon,  Katharina, Zipko,  Andrea
Dass Corona-Tagebücher zu einem bedeutenden Genre der Literatur würden, durfte schon im Moment ihres Entstehens bezweifelt werden. Der Klon aus Reaktionsgeschwindigkeit sozialer Medien und überstürzter Verbalisierung der persönlichen Isolation führte nur den prekären Zustand der literarischen Öffentlichkeit, der ohnedies kein neuer ist, drastisch vor Augen: Neo-Biedermeier, in dem Autorenlesungen bestenfalls durch Live-Stream ersetzt werden, und die Produktionen aus dem Elfenbeinturm ins heillose Hintertreffen geraten. Der Buchmarkt, den keiner mehr überschaut, läuft ungerührt weiter. Das „Literarische Jahrbuch der Stadt Linz“ begnügt sich stattdessen und ohne falsche Bescheidenheit mit jenem Koeffizienten, den einst Hans Magnus Enzensberger festlegte: in keinem Land und in keiner Sprache betrage die Anzahl der Leser von Dichtung seit jeher mehr als zweihundertfünfzig. Vielleicht war es aber kein Zufall, dass dieses solitär-private Verständnis von Literatur seinen Ursprung in der existenziellen Reaktion auf eine Katastrophe hatte, die seinerzeit alle traditionellen Vorstellungen von Natur, Mensch und Welt erschütterte. Bekanntlich war es das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, auf das Voltaire mit seinem „Candide oder der Optimismus“ in Form einer Satire auf die beste aller Welten reagierte, an deren Ende eine leidige Empfehlung stand: „Es geht darum, sich um den eigenen Garten zu kümmern!“ Die Moderne war erfunden! Ob es tatsächlich das Scheitern der klassischen Fragen nach dem Bösen und dem Unheil in der Welt war, was uns noch immer zu Lesern von Anthologien macht, sei dahingestellt, doch wie anders wäre das Vergnügen bei der Lektüre des „sanften Unmenschen“ Stifter, oder die Lust an tragischen Gegenständen angesichts der „fröhlichen Apokalypsen“ aller Modernen zu erklären? Heute ließe sich dementsprechend fragen: wer wäre jenseits aller Katastrophendiagnostik mehr berufen, die intime Chronik ihrer Zeit zu verfassen als Autorinnen und Autoren? Corona fand in die FACETTEN 2020 nur in einigen Fällen und auf rudimentäre Weise Eingang. Schließlich handelt es sich bei der Pandemie nicht nur um einen Unfall, sondern vor allem um einen Zufall unserer Lebenswelt mit nicht vorgesehenen drastischen Folgen. Als Motto über den vierunddreißig Beiträgen der diesjährigen FACETTEN könnte denn auch eines der lakonischen Fragmente von Eva Fischer stehen: „Der Zufall hat immer einen Einfall.“ Dass die Zeit für substanzielle literarische Reflexion des viralen Ausnahmezustandes noch nicht reif ist, macht der Beitrag der Autorengruppe „Original Linzer Worte“ schon im Titel deutlich: „Als wir etwas für die Facetten schreiben wollten, aber dadurch leider Linz und das System zerstört haben.“ Soweit sollte es noch kommen! Wer sich den Umständen vorsichtiger nähert, gerät wie Karin Peschkas erzählerischer Essay ins Zögern: „Und eine Reise nach Linz. Von wo? Wohin?“ Es sind vor allem Fragen, die auch in der großen Prosa-Tirade des Lyrikers Christian Steinbacher überdeutlich werden, der allerdings – allen widrigen Zuständen zum Trotz – jenes ästhetische Grundprinzip auf den Punkt bringt, dem jeder literarische Text, der diesen Namen verdient, zu folgen hat: „Daumenlutschen ist sicher eine Schwachstelle, aber Bohren in der Nase nicht minder.“ Was sonst noch bleibt ist bis auf Weiteres „Werktag“, von dem es in Richard Walls Gedicht heißt: „Apfel rot / Und Morgen blau / Der Tag lüftet seinen Hut. // Pendler stehn im Stau / Gieße mir Tee und Milch / In die Tasse. // Und warte / Bis des Nachbars Hofhund bellt / Und mir das erste Wort einfällt.“ ( im Vorwort)
Aktualisiert: 2020-12-17
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Facetten 2019

Facetten 2019 von Achleitner,  Friedrich, Androsch,  Günther, Antelmann,  Corinna, Bitter,  Claudia, Breier,  Isabella, Doms,  Stephanie, Drumbl,  Andrea, Eder,  Ulrike, Fischer,  Eva, Füssl,  Dietmar, Gebauer,  Kurt, Gomringer,  Nora, Gruber-Rizy,  Judith, Gruener,  Lisa, Haider,  Lydia, Hell,  Bodo, Janacs,  Christoph, Kaip,  Günther, Keszner,  Mario, Klein,  Erich, Krügl,  Sophie, Leisch,  Peter, Meindl,  Dominika, Menzinger,  Martin, Neuner,  Florian, Oppitz,  Ines, Pollack,  Martin, Pramhas,  Hildegard, Rager,  Wilhelm, Reiser,  Stefan, Riese,  Katharina, Rivero,  Birgit, Silberer,  Renate, Stöger,  Herbert Christian, Veichtlbauer,  Ortrun, Wall,  Richard, Wurzer,  Katharina
Literatur darf alles: parodieren, veralbern oder verarschen; wenn sie es kann, selbst blödeln. So wie es der späte Friedrich Achleitner, Klassiker der „Wiener Gruppe“ und Doyen der Österreichischen Architekturgeschichte und -kritik, der im März 2019 verstarb, in seinen späten Texten „ohne sense“ tat. Der gebürtige Schalchener griff nicht zufällig in seinen experimentellen Anfangsjahren zum Innviertler Dialekt, um ihn neu hören zu lassen; zuletzt hatte sich Achleitner in minimalistischen Stücken zur höheren Kunstform des Blödelns freigespielt. Zu „Heimat“ fiel ihm etwa ein: „mei muaddal woa a linzarin / drum hob i wean so gean.“ Oder er dichtete staatstragend subversiv: „heimat bist du großer söchter / ja da lob ich mir / die töchter.“ Mag es zum Gemeinplatz der österreichischen Literaturgeschichte gehören, dass am Ursprung der 2. Republik keine neue Welt ohne neue Sprache zu begründen war – wozu scheinbar paradox auf den regionalen Dialekt zurückgegriffen wurde –, in deren fortgeschrittenem Stadium ist für ihre „Töchter“ dessen Gebrauch im Dienste der Freiheit und der Frechheit selbstverständlich geworden. Dominika Meindls „Götterdämmerung“ entstellt damit die lokalen Verhältnisse zur Erkenntlichkeit: „LH: Des wird jetzt a Leistungsschau von unserem Kulturstandort! Vize: I gangad nia ins Theata, owa des schaut supa aus!“ Am Ende des Dramoletts erhebt sich dann, wenn auch unter einem „großen Haufen Gotteskot“, eine Stimme zum „Hoch auf die Macht der Literatur!“ Ein ähnlich sarkastischer Tonfall wird in Lydia Haiders „Grundlsee-Tatort“ angeschlagen: „K.: Sie san a Schriftstellerin, heat ma. S.: Ja. K.: Sprache heat jo a nie auf.“ Auch im Beitrag von Martin Pollack, einem der bekanntesten zeitgenössischen Autoren oberösterreichische Provenienz, verrät Sprache auf eindringliche Weise das absichtlich Unbewusste dieser Welt. In seiner Erinnerung an „meine Heimatstadt Linz“ in den späten 1950er Jahren berichtet Pollack eine abgründig skurrile Episode: „Meine Mutter war nicht sonderlich politisch, aber sie war verhaftet im alten System, das sie vermutlich nie wirklich in Frage gestellt hat. Ich weiß noch, wie sie einmal bei uns im Garten, wir waren allein, plötzlich, aus heiterem Himmel, zu singen begann, als wäre das das Normalste auf der Welt: Hey Babariba, die Nazi kommen wieder … Da war ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ich wusste also bereits, was das zu bedeuten hatte.“ Wenn achtzig Jahre nach Beginn des Zweigen Weltkrieges, an dessen Anfängen auch dieses Land nicht ganz unbeteiligt war, nicht nur Dreizehn-, Vierzehnjährige zu dieser Einsicht reiften, wäre einer alten Wahrheit Genüge getan: An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen! Die dreiunddreißig Beiträge der Facetten 2019 sind in ihrer inhaltlichen, stilistischen und poetologischen Vielfalt nicht nur ein Beitrag zu dieser Form des Erkennens; sie stellen auch einen Querschnitt durch den Ist-Zustand dar; diesen immer wieder neu zu beschreiben, zu bedichten und damit zu erfinden, ist die eigentlich Aufgabe der Literatur. ( im Vorwort)
Aktualisiert: 2022-08-31
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