I Einleitung
Uwe Hartmann / Claus von Rosen 9
II Kritische Denkwege
Peter Buchner
Innere Führung als Kritik an politischen Entscheidungsprozessen
20
Angelika Dörfler-Dierken
Das Reden von der „postheroischen Gesellschaft“.
Und dessen Auswirkungen auf militärische Strategie und Einsätze
32
Klaus Naumann
Ein Dachdokument ohne Dach. Konfliktbilder, vernetzter Ansatz und die Einsatzleitlinien der Bundeswehr
57
Hans-Hubertus Mack
Widerstand als Forschungsgegenstand
75
Reinhold Janke
Innere Führung und Tradition. Mit einem Exkurs zu ‚Treue um Treue’
84
Peter Buchner
Kritik: amtlich verordnet! Politische Bildung als kritische Instanz der Inneren Führung und das Geburtstagsständchen für den Beutelsbacher Konsens
110
Hans-Joachim Reeb
Politische Bildung in der Sicherheitsgesellschaft. Kritisches oder gemeinsames Verständnis von Bildungsinstitutionen und Bundeswehr? 124
Uwe Hartmann
Innere Führung und hybride Kriegführung – Zur Bedeutung des Kriegsbildes für die Weiterentwicklung der Führungsphilosophie für die Bundeswehr
137
Dirk Freudenberg
Führungsdenken in Militär, Polizeien, Hilfsorganisationen und Wirtschaftsunternehmen
150
Claus von Rosen
Fehlerkultur – Ein neues Thema in der Bundeswehr
182
Renè Streifer
Fehlerkultur – Ein Vergleich von Luftfahrt, Medizin und Streitkräften
205
Uwe Hartmann
Fehlerkultur – Ein Seminar als Beispiel
231
Marcel Bohnert
Armee im Aufbruch: Zum anhaltenden Diskurs um das Buch der »Leutnante 2014«.
240
III Zur Diskussion gestellt: Das neue Weißbuch
Michael Brzoska
Ein zu kurzer Schritt – wenn auch in die richtige Richtung 264
Sabine Jaberg
Neues Weißbuch auf altem Kurs
267
Winfried Nachtwei
Mehr Verantwortung – wofür und wie?
Kommentar zum Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik
und zur Zukunft der Bundeswehr
276
Agnieszka Brugger
Das neue Weißbuch – Kein Wegweiser für mehr Sicherheit und Frieden
289
IV Rezension 295
Autorenverzeichnis
Personenregister
Sachregister
300
302
304
I Einleitung
Uwe Hartmann / Claus von Rosen
Einleitung
Die Innere Führung ist eine kritische Instanz. Ganz im Sinne der biblischen Aufforderung „Prüfet alles. Das Gute behaltet“ begleitet sie wertegeleitete Diskussions- und Entscheidungsprozesse, die auf verschiedenen Ebenen ab-laufen: existentiell auf der Ebene des Individuums, das sich seiner Identität vergewissert; politisch in Staat, Gesellschaft und Streitkräften, wenn es um die Organisation und den Einsatz bewaffneter Gewalt geht.
Kritikfähigkeit wurde der Inneren Führung in die Wiege gelegt. Bei ihrer kon-zeptionellen Ausarbeitung vor über 60 Jahren ging es ganz wesentlich auch darum, die deutsche Militärgeschichte zu prüfen und das Gute, das für den Aufbau neuer deutscher Streitkräfte in der jungen Bundesrepublik Deutschland nützlich war, herauszufiltern. Die Abgrenzung zur Wehrmacht sollte so weit gehen, dass ohne Anlehnung an diese etwas vollkommen Neues entsteht. So formulierten es die Militärreformer in der Himmeroder Denkschrift, der Magna Charta für die Bundeswehr.
Einen kritischen Geist forderte auch die Analyse des Kriegsbildes, die ent-scheidend war für die konzeptionelle Ausplanung schlagkräftiger Streitkräfte. Der Kalte Krieg erforderte mehr als die Abschreckung eines konventionell-atomaren Angriffs der Armeen des Warschauer Pakts. Staatsbürger mit und ohne Uniform sollten gegen die Wirkungen von Propaganda und Desinforma-tion geschützt werden. Dies musste Konsequenzen haben, auch für die Innere Führung selbst.
Später, in den 80er Jahren, geriet diese kritische Funktion der Inneren Führung noch einmal ins Rampenlicht einer breiteren Öffentlichkeit. In einer vor dem Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses zugespitzten sicherheitspoli-tischen Lage waren es vor allem Protagonisten der Inneren Führung, welche die Kompatibilität der Bundeswehr mit der Demokratie in Frage stellten und sogar deutliche Anzeichen für eine Wiedergeburt des Geistes der Wehrmacht bei ihren Angehörigen ausmachten. Auch die zunehmende Bürokratisierung der Bundeswehr bot Anlass zur Kritik. Unter Leitung des ehemaligen General-inspekteurs der Bundeswehr, Ulrich de Maiziére, erarbeitete eine Kommission zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung von Führungsfähigkeit und Entschei-dungsverantwortung in der Bundeswehr.
Darüber hinaus ist Innere Führung Politik- und Gesellschaftskritik. Neben der Frage, was die Streitkräfte tun müssen, um in eine demokratische Gesellschaft integriert zu werden, wagte sie auch den kritischen Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine Armee benötigt, um ihren Auftrag zu erfüllen. Hierfür gibt es eng gezogene Grenzen, vor allem dann, wenn der Eindruck entsteht, das Primat der Politik würde in Frage gestellt.
Zur Aufgabe der Inneren Führung gehört auch, Plattformen für die individuel-le Selbstvergewisserung, für Diskussionen innerhalb der Bundeswehr sowie mit Politik und zivilgesellschaftlichen Gruppen anzubieten. Als kritische Instanz ist sie selbst ein Katalysator für Debatten. Dabei zeichnet sich die Innere Führung durch ein zentrales kommunikationsethisches Gebot aus: Gespräche müssen trotz scheinbar unversöhnlicher Kontroversen partnerschaftlich geführt wer-den; Streitigkeiten über existentielle und politische Fragen dürfen den inneren Zusammenhalt und die kameradschaftliche Geschlossenheit innerhalb der Bundeswehr nicht untergraben.
Das Jahrbuch Innere Führung 2016 möchte an diese kritische Tradition an-knüpfen und sie dadurch herausstellen. Auch das neue Weißbuch der Bundes-regierung setzt einen solchen Akzent, indem es die Bedeutung einer Wahrheits- und Streitkultur für die Bundeswehr betont. Angesichts der im letzten Jahr-buch analysierten Gleichzeitigkeit verschiedener und untereinander vernetzter Krisen, Konflikte und Kriege erscheint eine stärkere Betonung der Inneren Führung als kritische Instanz dringend geboten. Dies gilt auch für das neue Weißbuch selbst. Es beinhaltet gelungene und weithin akzeptierte Analysen der globalen sicherheitspolitischen Lage, die jedoch im Hinblick auf ihre strategi-sche Umsetzung nicht zuletzt auch im weiten Feld der Inneren Führung kri-tisch weitergedacht werden müssen.
Das Jahrbuch Innere Führung 2016 beginnt mit einem Beitrag von Peter Buchner. Unter der Überschrift „Innere Führung als Kritik an politischen Entscheidungsprozessen“ vergleicht er überaus kreativ die Innere Führung mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Dabei stellt er fest, dass Analogien erkennbar sind, die auf gemeinsamen kritischen Fragestellungen beruhen. Er schreibt: „Was da für die Kritische Theorie zunehmende Kapitalkonzentration und Bürokratisierung als Ursache der Abtötung des Spontanen und Individuellen in der 'verwalteten Welt' bedeutet, sind im Militär Tugendhaftigkeit, Ehrgehabe und Heldenmythen wie der Tod im Kampf auf dem Schlachtfeld als sozialromantischer Topos a la Walter Flex, die die Soldaten 'instrumentell' und 'zweckbestimmt' vereinnahmen. So wundert es nicht, dass umfassende soziale Kontrolle des Einzelnen im Militär stark ausgeprägt ist. Idealismus, Nonkonformismus und Kreativität dagegen sind oft nachrangig, teilweise scheinbar sogar unerwünscht. Welcher Soldat hätte nicht hin und wieder den Eindruck von einer 'total verwalteten (Militär-)Welt'.“ Die Befreiung des Menschen aus seiner Verdinglichung, die Betonung des Individuums und seines Gewissens, die Teilhabe an den politischen Entscheidungsprozessen, all dies sei zuvor auch für die Reformer um Baudissin leitend gewesen. Er kommt zu dem Ergebnis, „… dass mit der Organisations-kultur Innere Führung eine kritische Institution besteht, die die Soldaten als Mitbürger ohne Wenn und Aber in die kritische Begleitung politischer Entscheidungen mit einbezieht. Der responsive Charakter von Demokratie endet also nicht mehr am Kasernentor.“
Angelika Dörfler-Dierken setzt sich in „Das Reden von der ‚postheroischen Ge-sellschaft’. Und dessen Auswirkungen auf militärische Strategie und Einsätze“ kritisch mit den Thesen des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler auseinander. Sie wendet ihren scharfsinnigen Blick auf die wissenschaftlichen Analysen eines Kollegen, hat dabei jedoch vor allem deren potentielle Auswir-kungen bei einer unkritischen Übernahme auf das Selbstverständnis von Solda-tinnen und Soldaten der Bundeswehr im Blick. In Münklers Kernthese, dass sich 'postheorische Gesellschaften' 'heroische Gemeinschaften' halten, um ihr Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, sieht sie die Gefahr einer Rechtfertigung mentaler militärischer Sonderwelten. Die Berufsgruppe der Soldaten, die der-zeit um Anerkennung ringe, sei dafür besonders empfänglich. Sie unterzieht Münklers „eingängiges und wirkmächtiges Konstrukt“ daher einer genaueren historischen, ethisch-theologischen und jugendsoziologischen Analyse. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass durch eine „Entzauberung des Helden“ die Soldatinnen und Soldaten zurück in die Gemeinschaft der Staatsbürger zu-rückgeholt und in die Gruppe derjenigen eingeordnet würden, „… denen die Sorge für Sicherheit, Entwicklung, Frieden und Recht aufgetragen ist.“ Statt heroischer Vergemeinschaftung fordert sie von ihnen die kritische Frage an die Politik, „ob ihr Einsatz tatsächlich die gewünschten Ergebnisse erbringen kann, oder ob sie vergebens Mühen und Entbehrungen bis hin zum Todesrisi-ko auf sich nehmen.“
In seinem Beitrag „Ein Dachdokument ohne Dach. Konfliktbilder, vernetzter Ansatz und die Einsatzleitlinien der Bundeswehr“ analysiert Klaus Naumann den Entwurf der Einsatzleitlinien der Bundeswehr aus dem Planungsamt der Bundeswehr bzw. dem BMVg. Dieses Dokument bildet das Bindeglied zwi-schen strategischen Dokumenten wie dem Weißbuch und dem Handeln von Streitkräften im Einsatz. Naumann stellt die Stärken und Schwächen der Einsatzleitlinien klar heraus. Er würdigt die Anerkennung der Präsenz des Poli-tischen im militärischen Einsatz, wundert sich allerdings über die Aussage, die Innere Führung stünde der Auftragserfüllung deutscher Streitkräfte im Einsatz „nicht entgegen“. Kritisch fragt er, ob „… man ähnliches jemals über das ope-rative Denken, die Taktiklehre oder andere Kernelemente des professionellen militärischen Selbstverständnisses gehört“ habe. Abschließend resümiert er: „Das Verhältnis von Militär und Politik, die Amalgamierung von Zwecken und Zielen zu einem kohärenten strategischen (Dialog-)Prozess, das Aneinanderrü-cken der drei (strategischen, operativen, taktischen) Führungsebenen, die Befä-higung, zur Synchronisierung des Handelns unterschiedlicher Akteursgruppen und Kräfte beizutragen (ohne alles über den Kamm der Operationslogik zu scheren) – viele dieser Grundprobleme zeitgenössischer Einsätze haben in den Einsatzleitlinien noch keine befriedigende Antwort gefunden.“
Hans-Hubertus Mack unterstreicht in seinem Beitrag „Widerstand als For-schungsgegenstand“, dass die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung immer neue Fragestellungen anregt, deren Bearbeitung für das Selbstverständ-nis von Angehörigen der Bundeswehr wichtig ist. Dies gelte auch für den Wi-derstand gegen den Nationalsozialismus, der im Mittelpunkt des Traditionsver-ständnisses der Bundeswehr steht. Kritisch merkt er an, dass neue Forschungs-ergebnisse über den Widerstand nicht immer gewünscht sind, weil sie liebge-wonnene Bilder in Frage stellen könnten. Er weist auf eigentümliche Entwick-lungen im Umgang mit geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen sowie mit der Tradition der Bundeswehr hin. So diagnostiziert er eine 'Zivilisierung' der am Widerstand beteiligten Offiziere oder eine fehlende Thematisierung des im Preußentum angelegten Freiheitsbegriffs, der Grundlage für die kritische Hal-tung von Offizieren zum Nationalsozialismus war. Für die weitere historische Forschung über den Widerstand drängten sich zahlreiche Fragen auf, deren Beantwortung Auswirkungen auf das soldatische Selbstverständnis haben wer-den.
Reinhold Jankes Diskurs über „Innere Führung und Tradition“ erscheint auf den ersten Blick als akademische Fingerübung, als ein längst überholter Nachtrag zur Diskussion in der Debatte um die Innere Führung der 50er Jahre. Wer die-sem Eindruck zu erliegen droht, sollte den Artikel rückwärts lesen. Der Exkurs zu ‚Treue um Treue‘ entpuppt sich zu einem höchst brisanten, „in mancher Hinsicht bewusst provokativ gefassten und gesellschaftspolitisch adressierten“, also kritischen Denkanstoß als 'Staatsbürger in Uniform'. Angesichts des offi-ziellen Verbotes des Leitspruchs 'Treue um Treue' für Heeresverbände und Einheiten lässt er sich die „Deutungshoheit über die eigene Geschichte und Tradition“ nicht nehmen, sondern fordert eine Tradition, „die durch histori-sches Wissen ergründet, durch rechtliche Grundlagen abgesichert, durch ethi-sche Bewertung als würdig erwiesen, durch soziale Normen des Anstandes und der Ehre geprägt und durch die staatspolitischen Ziele unserer deutschen Ver-fassung mit ihren Grundwerten legitimiert ist.“ Was sich hinter dieser Forde-rung verbirgt, kann man – nun – getrost im umfangreichen philologisch-philosophischen Vorspann lesen, in dem der Autor den Weißbuch-Auftrag zur Weiterentwicklung und Ausgestaltung der Tradition der Bundeswehr „in ihrer Gesamtheit“ und „nicht nur wieder ausschließlich auf den Streitkräfteanteil be-schränkt“ wissen will.
In seinem zweiten Beitrag „Kritik: amtlich verordnet! Politische Bildung als kri-tische Instanz der Inneren Führung und das Geburtstagsständchen für den Beutelsbacher Konsens“ diskutiert Peter Buchner die Lage der Politischen Bil-dung in der Bundeswehr. In seiner die Entwicklungslinien der politischen Bil-dung nachvollziehenden Darstellung kommt er zu dem Ergebnis, dass die poli-tische Bildung „… für die Einbindung von Streitkräften in die Demokratie viel mehr leisten könnte, als den Soldaten nur Sinnangebote für ihre Einsätze zu machen, um den Legitimationsanspruch Innerer Führung zu erfüllen.“
Mit der Politischen Bildung beschäftigt sich auch Hans-Joachm Reeb in seinem Beitrag „Politische Bildung in der Sicherheitsgesellschaft. Kritisches oder ge-meinsames Verständnis von Bildungsinstitutionen und Bundeswehr?“. Darin analysiert er das Spannungsfeld unterschiedlicher Zielvorstellungen politischer Bildungsarbeit und sucht nach einer gemeinsamen Plattform für die „Sicher-heitsgesellschaft“. Diese verortet er in der Werteordnung des Grundgesetzes, den allgemeinen didaktischen Prinzipien des Faches und dem Bestreben, jeden Einzelnen zur Sicherheitskompetenz zu befähigen.
Uwe Hartmann setzt sich mit den neuen hybriden Bedrohungen auseinander. Unter der Überschrift „Innere Führung und hybride Kriegführung – Zur Be-deutung des Kriegsbildes für die Weiterentwicklung der Führungsphilosophie für die Bundeswehr“ stellt er die hybride Kriegführung als eine kreative Kom-bination unterschiedlichster ziviler und militärischer Mittel dar. Die Zukunfts-relevanz dieser neuen Art der Kriegführung beruhe auf den strategischen Leh-ren aus der Kriegsgeschichte vor allem der Weltkriege sowie der neueren Ein-sätze im Rahmen der internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung. Ihre wesentlichen Charakteristika wie beispielsweise Angriffe auf die Gesellschaft als Center of Gravity wurden auch im Weißbuch 2016 deutlich herausgestellt. Vor diesem Hintergrund sei es verwunderlich, dass in den entsprechenden Passagen des Weißbuches zur Inneren Führung und zur Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft dazu kaum Folgerungen getroffen werden – zumal der Autor nachweisen kann, dass die Innere Führung, die in der Anfangsphase des Kalten Krieges erarbeitet wurde, sich an einem Kriegsbild orientierte, das viele Paralle-len mit den heutigen hybriden Bedrohungen aufweist. Im stärkeren Rekurs auf das Kriegsbild sieht Hartmann auch die künftige Relevanz der Inneren Füh-rung.
Dirk Freudenberg analysiert unter der Überschrift „Führungsdenken in Militär, Polizeien, Hilfsorganisationen und Wirtschaftsunternehmen“ die Zusammen-arbeit von Institutionen, die angesichts von neuen Bedrohungen der Sicherheit Deutschlands immer wichtiger wird. Im Mittelpunkt stellt er den Begriff der 'Konzentrierten Führung', einen „… innovativen Führungsbegriff, welcher die Faktoren Personal, Außenbeziehungen, Recht, Finanzen, Informations- und Kommunikationstechnik, Organisations-/ Geschäftsprozesse ebenenübergrei-fend und unter externen und internen Rahmenbedingungen so verdichtet, dass eine moderne Führungskraft in der Lage ist, in immer komplexeren und kom-plizierteren Umgebungen entsprechende Prozesse zu steuern und zu koordi-nieren und ebenso befähigt wird, in unterschiedlichen Führungsumgebungen von Wirtschaft und Verwaltung zu agieren.“ Der Autor arbeitet die Gemein-samkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Institutionen heraus und geht dabei besonders auf die Praxis des militärischen Führungsprinzips des 'Führens mit Auftrag' ein. Abschließend fordert er gemeinsame Ausbildungen und Übungen der verschiedenen Sicherheitskräfte.
Gleich drei Artikel beschäftigen sich mit der Fehlerkultur in der Bundeswehr. Das Thema wurde durch die Bundesministerin der Verteidigung vor dem Hin-tergrund der Probleme in den Rüstungsprozessen der Bundeswehr aufgewor-fen und vom Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages als Problem für die Bundeswehr insgesamt ausgeweitet. Die Autoren Claus von Rosen, René Strei-fer und Uwe Hartmann waren bei der Vorbereitung und Durchführung einer Ta-gung zur Verantwortungs- und Fehlerkultur beteiligt, die der Inspekteur des Heeres zusammen mit dem Wehrbeauftragten vom 22.–23. August 2016 in Neuhardenberg durchführte.
Claus von Rosen setzt sich in seinem Beitrag „Fehlerkultur – Ein neues Thema in der Bundeswehr“ zunächst mit dem Verständnis von Fehlern und Fehlerkultur auseinander. Unter Rückgriff auf Clausewitz’ Theorie des Krieges weist er nach, dass der Umgang mit Fehlern in Ausbildung und Übung gelernt werden muss. Anschließend stellt er die kritische Frage nach der Umsetzung dieser we-sentlichen pädagogischen Einsicht in den Vorschriften der Bundeswehr zur Truppenführung und zur Inneren Führung. Dabei stellt er fest, dass der Um-gang mit Fehlern in den Vorschriften der 50er bis 80er Jahre des letzten Jahr-hunderts weitaus stärker thematisiert wurde. Das Scheitern militärischer Ope-rationen, die geistige Freiheit, Gefechte an anderer Stelle wieder aufzunehmen, sowie die Zurückhaltung von Vorgesetzten gegenüber selbständig handelnden Unterstellten waren zentrale Wegweiser für den Umgang mit Fehlern. Ange-sichts der Komplexität von Ereignissen sei die Fehlersuche immer eine inter-disziplinäre Aufgabe, da es sich häufig um Mehrfachfehler handele, zu denen mehrere Personen und Organisationen beigetragen hätten. Zu berücksichtigen seien auch die Rahmenbedingungen des Handelnden, die das Begehen von Fehlern genauso erleichtern wie sie den Umgang mit Fehlern erschweren könnten.
René Streifer beschreibt in seinem Beitrag „Fehlerkultur – Ein Vergleich von Luftfahrt, Medizin und Streitkräften“ ausführlich die Maßnahmen zur Verbes-serung von Fehlerkultur in der Luftfahrtindustrie und im medizinischen Be-reich. Deren Instrumente und Maßnahmen zur Etablierung einer positiven Fehlerkultur könnten auch für die Streitkräfte hilfreich sein. Dafür sei aller-dings ein erheblicher Aufwand und insbesondere das langfristige Engagement des zivilen und militärischen Führungspersonals erforderlich. Die gute Nach-richt laute: Fehlerkultur ist für die Bundeswehr kein Neuland. Neu sei „… eher der organisationsweite Ansatz der Betrachtung unter dem Schlagwort 'Fehler-kultur'. Die Herausforderung wird darin bestehen, die einzelnen Elemente un-ter einem ganzheitlichen Konzept und einheitlicher Führung weiter zu führen und zu entwickeln. Das Nutzen der Erfahrungen von Organisationen aus an-deren Bereichen kann dabei helfen.“
Uwe Hartmann stellt unter der Überschrift „Fehlerkultur – Ein Seminar als Bei-spiel“ die didaktischen und methodischen Überlegungen bei der Gestaltung der o.g. Tagung zur Verantwortungs- und Fehlerkultur im Heer dar und bietet die-se als ein Modell für vergleichbare Veranstaltungen auf allen Führungsebenen der Streitkräfte an. Dafür sei besonders die in diesem Jahrbuch abgebildete Vi-sualisierung der Diskussionen und ihrer Ergebnisse hilfreich. Darüber hinaus zeigt er den Diskussionsbedarf über das Verständnis von Begriffen auf, die für die Verbesserung der Verantwortungs- und Fehlerkultur unverzichtbar sind. Dazu gehörten vor allem die Begriffe des Führens mit Auftrag, der Erziehung und des gewissensgeleiteten Gehorsams.
Der Beitrag von Marcel Bohnert über die Rezeption des Buches „Armee im Auf-bruch“ führt uns tief in die gelebte Praxis der Inneren Führung der Bundes-wehr. Bohnert hatte als Leiter einer Studentenfachbereichsgruppe an der Hamburger Bundeswehruniversität studierende Offiziere und Offizieranwärte-rinnen bzw. Offizieranwärter um sich geschart, mit denen er über ihr Berufs-bild diskutierte. Daraus entstand das 2014 erschienene Buch „Armee im Auf-bruch“. Der Empörung, die sich bald über die Beiträge in diesem Buch breit machte (s. Jahrbuch Innere Führung 2015, S. 265ff), folgte eine zunehmende Versachlichung der Debatte, bei der die Autoren auf Augenhöhe zu geschätz-ten Gesprächspartnern wurden. Warum also der erste heftige Aufschrei? In seinem Beitrag nimmt Bohnert diese Frage behutsam auf. Dabei lesen sich die An- und Bemerkungen zur Veröffentlichung von „Armee im Aufbruch“ wie Donnerschläge, wie ein schlechtes Beispiel der Diskussions- und Debattenkul-tur sowie der Urteilsfähigkeit in der Bundeswehr, als seien „andere Meinun-gen“ unerwünscht bis nicht zulässig. Die jungen Offiziere und Offizieranwär-terinnen bzw. Offizieranwärter haben gemeinsam und unter Anleitung dieses einen militärischen Vorgesetzten sich Gedanken über das Bild ihres Berufes gemacht. Da fließen erste Erlebnisse und Erfahrungen aus dem Militär mit den Vorstellungen und Erwartungen darüber aus ihren Pennälerzeiten zusammen. Was sie bis hierher erlebt und erkannt haben, ist zum Notschrei geworden – und das wird noch über Jahre so weiter gehen, denn: Wo sind die bisherigen Vorgesetzten, die ihnen schon auf dem Findungsweg geholfen haben? Wo sind die akademischen Lehrer, die ihnen an solchen Fragen das analytisch-kritische Instrumentarium beibringen? Und wo sind die vielen Mitbürger, die ihnen bei der Wertediskussion unserer demokratischen Gesellschaft geholfen haben und weiter zur Seite stehen werden? Dieser Beitrag ist ein Lehrbeispiel für die prak-tizierte Innere Führung, für das, was der eine getan hat und die vielen versäumt haben.
In die Rubrik „Zur Diskussion gestellt“ haben die Herausgeber vier Kritiken zum Weißbuch 2016 aufgenommen.
Während der letzten zehn Jahre, solange das Weißbuch von 2006 irgendwie Gültigkeit für die Deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik hatte, verän-derte sich sehr viel und Grundlegendes. Die Einsicht in die kurzfristige Gel-tungsdauer von derartigen Grundsatzdokumenten wirft die Frage auf, wie weit das neue „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ von 2016 ernstliche Prognose und wie weit es doch nur Hoffnung auf Fortbe-stand des erkennbaren Ist-Zustandes ist. Die Antwort darauf fällt schwer, muss sie zum einen doch selber prognostisch und zum anderen wahrhaft Kritik sein und zum dritten die Komplexität des Themenfeldes Sicherheitspolitik und Bundeswehr abbilden. Aus diesem Grunde sind mehrere Autoren mit unter-schiedlichen Hintergründen und Schwerpunkten mit ihren Stellungnahmen zum neuen Weißbuch vertreten. Ihre Beiträge ermöglichen kritische Einblicke in das Weißbuch aus verschiedenen Blickwinkeln.
Michael Brzoskas Statement greift aus einer gesamtpolitisch-strategischen Sicht drei Punkte auf: Die Gesamtstrategie-Frage, das Thema Sicherheitspolitik statt Militärpolitik und den comprehensive approach als Ansatz für eine umfassende res-sortübergreifende Strategieentwicklung der Politik. Er sieht „zum wiederholten Male hehre Absichtserklärungen“, „die Praxis spricht einmal mehr eine andere Sprache“.
Grundlegend und systemimmanent-kritisch diskutiert Sabine Jaberg das Weiß-buch vor dem Hintergrund, dass das Grundgesetz als einzigen Zweck für die Aufstellung der Streitkräfte die Verteidigung der Bundesrepublik gegen einen drohenden oder stattfindenden bewaffneten Angriff nennt. Tatsächlich haben sich die Streitkräfte inzwischen in der politischen Praxis zu einer global ein-setzbaren Interventionsarmee entwickelt. Das Weißbuch schreibe diesen Kurs fort. Dies entwickelt Jaberg anhand von drei Aspekten: Das Weißbuch erwei-tert zum einen den Raum militärischer Möglichkeiten und erleichtert der Poli-tik den Zutritt, zum anderen bettet es Bundeswehreinsätze in eine offene Pro-grammatik ein und schließlich seien im Weißbuch Korrekturen zugunsten re-flexiver Sicherheits- und gar Friedenspolitik ausgeblieben. Aufgrund von „blinden Flecken“ des Weißbuches fordert sie eine programmatische Debatte in Wissenschaft und Gesellschaft über „eine belastbare gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung“ sowie eine „selbstreflexive Sicherheits- oder gar Friedenspolitik“.
Winfried Nachtwei sieht in dem Weißbuch mancherlei Anstöße zu einer gründli-chen Debatte. Dies ist angesichts der Häufung näher rückender Krisen, Kon-flikte und Kriege sowie der Gefährdung des friedlichen und demokratischen Zusammenlebens in Deutschland und Europa dringend und ernsthaft geboten. Dazu betrachtet er in seinem Beitrag umfangreich, tiefgreifend und an politi-schen Erfahrungen orientiert, sieben Punkte zum Thema „Sicherheitspolitik“: Die Öffnung der Debatte bei der Entstehung des Weißbuches, die nun erst recht produktiv fortgesetzt werden müsse, das Fehlen einer Gesamtstrategie, Deutschlands Rolle in der Welt und sein sicherheitspolitisches Selbstverständ-nis, Deutschlands Werte und sicherheitspolitische Interessen, das sicherheits-politische Umfeld, Deutschlands strategische Prioritäten sowie die Sicherheits-politischen Gestaltungsfelder. Dies bietet eine gute Grundlage für die geforder-te Fortsetzung der Debatte – auch mit „fundamental ablehnenden Kreisen“.
Agnieszka Brugger betrachtet als Sprecherin für Sicherheitspolitik und Abrüstung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Deutschen Bundestag das Weißbuch unter dem Aspekt „verpasste Chancen“. Dem Weißbuch fehlt es nach Brugger an einer sinnvollen sicherheitspolitischen Priorisierung und einem daraus abge-leiteten realistischen Aufgabenprofil für die Streitkräfte. Als besonders proble-matisch bewertet sie die im Weißbuch angekündigte Absicht, die Bundeswehr künftig vermehrt in Auslandseinsätzen außerhalb von Systemen kollektiver Si-cherheit und in Allianzen williger Staaten einzusetzen. Nur multidimensionale Missionen im Rahmen von EU oder VN und zusammen mit zivilen, polizeili-chen und militärischen Mitteln hätten eine erhöhte Chance auf nachhaltigen Erfolg. Sie findet daher, dass es höchste Zeit für eine „echte Friedens- und Si-cherheitsstrategie“ ist.
Das Weißbuch zeigt, wie wichtig ein inklusiver Prozess der Bearbeitung von zentralen sicherheitspolitischen Dokumenten ist. Die Kritik am Weißbuch so-wie an dem Entwurf der Einsatzleitlinien unterstreicht, dass wissenschaftliche Expertise wichtige Beiträge liefern kann. Wie förderlich ein möglichst breiter Diskurs über Fragen des Selbstverständnisses von Soldatinnen und Soldaten ist, zeigt der Verlauf der Debatte über das Buch „Armee im Aufbruch“. Das Gespräch suchen mit allen Soldatinnen und Soldaten sowie mit Institutionen und Personen außerhalb der Bundeswehr sowie deren Kritik einfordern und berücksichtigen, das war von Anfang an ein Markenzeichen der Inneren Füh-rung.
Berlin/Hamburg, im November 2016