Schwäne im Schnee

Schwäne im Schnee von Britze,  Joachim;Schiolaschwili,  Irma, Mossulischwili,  Micho, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Nachwort Micho Mossulischwili wurde am 10. Dezember 1962 im Dorf Araschenda in der ostgeorgischen Provinz Kachetien geboren. Über seine Kindheit, die seine Persönlichkeit und damit auch sein literarisches Schaffen geprägt hat, teilt er mit: „Ist es eine kapitalistische Kindheit oder eine so- wjetische Kindheit? Es ist eine Kindheit und damit Schluss! Ein Kind interessiert sich nicht für das staatliche System oder die Ideologie. Meine Kindheit ist mit zwei Geschehnissen verbunden, aus denen man ersehen kann, warum ich Schriftsteller geworden bin (wenn ich wirklich einer bin). 1. Wenn in meiner Kindheit irgendeine Frau mit Kopftuch zu uns gekommen ist, forderte ich sofort, dass sie es abnehme. Tat sie es nicht, fing ich an zu weinen. Das setzte ich so lange fort, bis die erstaunten und völlig durcheinander gekommenen Frauen ihr Kopftuch abnahmen. Meine Mutter beruhigte sie immer wieder und erklärte ihnen, dass ich sogar sie von Anfang an mit Kopftuch nicht ertragen konnte und immer forderte, dass sie es abnehme. Später, als ich älter wurde, versteckte ich die Kopftücher meiner Mutter, damit sie sie nicht tragen könne. Wenn ich auch jetzt eine Frau mit Kopftuch sehe, wird mein Herz in negative Schwingungen versetzt und ich bin nahe daran, sie zu bitten, ihr Kopftuch abzunehmen und Haare und Gesicht zu zeigen, weil das der schönere Teil der Menschheit ist. Dieses kleine Detail, dass ich bei den Frauen das Kopftuch nicht ertragen konnte, weil es ihre Schönheit bedeckt, war – wie ich erst später begriffen habe, als ich groß geworden war – ein Anstoß dazu, mich so zu benehmen, dass ich den Frauen gefalle. Nach meiner damaligen Beobachtung schmeicheln die Männer den Frauen so, wie sie es nur können, um bei ihnen anzukommen, durch ihr Benehmen oder durch irgendwelche Aktionen. Dadurch habe ich angefangen, darüber nachzudenken, was ich machen könnte, um den Frauen zu gefallen. Blumen bringen? Natürlich! Aber ich habe auch entdeckt, dass ich Lebensereignisse gut beschreiben konnte. Ich konnte sogar solche Ereignisse erfinden und die Stimmen der Menschen in ihnen hören. Dass ich schreibe, soll man so verstehen, dass ich damit den Frauen als dem schöneren Teil der Menschheit gefallen möchte. Ich denke ständig, dass mir dies bis jetzt nicht völlig gelungen ist. Und deshalb versuche ich immer wieder, neue Sachen zu schreiben … 2. Seit meiner Kindheit begleitet mich noch eine andere außergewöhnliche Schönheit, die meine Seele immer nach oben brachte. Das war die Musik. Aber die Sache mit der Musik war komplizierter. Es gab eine Art von Musik, die ich nicht leiden konnte und vor der ich wegrannte. Ich schaltete entweder das Radio aus oder verließ das Zimmer, um sie nicht hören zu müssen. So sehr missfiel sie mir. Aber es gab auch die andere Art der Musik. Wenn meine Seele sie hörte, flog sie hoch und begann sich frei zu bewegen in irgendwelchen wunderschönen Gefilden, oder sie flog um seltsam stehende und seltsam sprechende Menschen herum. Das gefiel ihr sehr. Bevor ich anfing zu studieren und dabei Erzählungen zu schreiben, wusste ich nicht, warum ich einen so seltsamen Bezug zur Musik hatte. Als ich versuchte, meinen eigenen Prosastil zu finden, las ich viele Schriftsteller. Ich erlernte meinen Schreibstil von ihnen und schrieb sogar ganze Seiten bei ihnen ab, um zu verstehen, wie sie schrieben. Einige Schriftsteller standen mir nahe und von einigen wollte ich wegrennen. Hier passierte mir dasselbe wie mit der Musik, als ich klein war. Aber während ich damals nicht verstehen konnte, was mit mir los war, habe ich beim Studium der Schriftsteller folgendes verstanden: Mir steht Hermann Hesse nahe, und weit weg steht Thomas Mann. Mir steht Akutagawa nahe, und weit weg steht Kawabata. Mir steht Dostojewskij nahe, und weit weg steht Tolstoj. Mir steht Wascha Pschawela nahe, und weit weg steht Ilia Tschawtschawadze. Dabei bedeutet das überhaupt nicht, dass Thomas Mann, Kawabata, Tolstoj und Ilia Tschawtschawadze schlechte Schriftsteller seien. Sie stehen einfach weit weg von meiner inneren Natur. Später, als ich begriffen hatte, dass der Rhythmus eines jeden Werks von Musik beeinflusst ist, entdeckte ich, dass Hermann Hesses Schreibrhythmus durch Mozarts und Bachs Musik bedingt ist, und nicht beispielsweise durch Beethoven, Haydn oder Schumann. Der Rektor des Staatlichen Tifliser Konservatoriums, Professor Nodar Gabunia, hat einmal in einem Interview gesagt: ‚Von den Romantikern stehen mir Schubert und Schumann am nächsten. Meine Natur als Musiker ist fest geradeaus, nicht biegsam oder geschmeidig. Wenn wir das mit den Tieren vergleichen, habe ich wenig von der Natur der Katze in mir, mehr von der des Hundes. Die Beweglichkeit der Katze findet sich bei Mozart und Chopin, eine einschmeichelnde Beweglichkeit. Du beobachtest die Konturen und siehst keine Ecke. Bei Haydn, Beethoven und Schumann sind diese Ecken sichtbar. Ich spiele zwar selbstverständlich auch Chopin. Ich habe es aber immer vermieden, ihn auf der Bühne zu spielen, weil ich immer argwöhnte, dass es nicht das war, was es sein sollte. Ich habe auch Mozart nicht so oft gespielt. Viel lieber spielte ich Haydn, Beethoven, Schubert …‘ Das heißt, dass die (ja auch in der Psychologie bekannte) Einteilung in Katzen und Hunde ebenso wie bei den großen Komponisten auch bei den gewöhnlichen und ungewöhnlichen Menschen besteht. Hermann Hesse zum Beispiel ist eine Katze (sein autobiographischer Held Harry Haller aus dem Roman „Steppenwolf“ klammert sich in einem seiner Zauberträume an die langen Haare Mozarts und so schaukelt er auch in der Welt herum …) und Thomas Mann ist ein Hund. Katzen sind Bach, Mozart und Chopin. Hunde sind Beethoven, Haydn, Schubert und Schumann. Eine Katze ist Don Quijote und ein Hund Sancho Panza. Als ich diese psychologische Einteilung fand und mich daran erinnerte, dass ich nach dem orientalischen Kalender ein Tiger bin (da ich 1962 geboren wurde), d.h. dass ich eine Katze bin, entdeckte ich auch, dass ich seit meiner Kindheit den Katzen-Komponisten viel näher stehe. Es machte mich glücklich sie zu hören, während ich vor den Hunde-Komponisten wegrannte. Später passierte mir genau dasselbe mit der Literatur. Seitdem weiß ich, wie ich meine Werke schreiben soll. Der Stil eines jeden meiner Werke ist durch einen Komponisten oder eine Musik des Katzentyps bedingt: elastisch, knapp und ungezwungen. An diesem Zyklus von Miniaturen habe ich zum Beispiel mein ganzes Leben lang geschrieben. Ihnen liegen einzelne musikalische Phrasen von Komponisten zu Grunde. Wenn man einzelne Ausschnitte spielt, ohne sie zu beenden, und dann zu den nächsten übergeht, entsteht am Ende ein Mosaik … Was ich schreibe, kommt nicht aus anderer Literatur oder ist von anderen Schriftstellern beeinflusst, sondern ist im Grunde der Musik entnommen. Genauso suche ich immer wieder „meine Katzen-Maler“ für visuelle Vorstellungen und versuche dann, etwas zu schreiben. Diesen Zugang zur Literatur verursachten die in der Kindheit angehörten Musikarten: vor der einen bin ich weggerannt, die andere habe ich immer wieder gesucht.“ Nach der Schulzeit entschied sich Micho Mossulischwili für das Studium der Geologie und Geographie, das er 1981-1986 an der Universität von Tiflis absolvierte. Im Nebenfach studierte er Kinodramaturgie. Schon zu dieser Zeit war er schriftstellerisch tätig. Für das Studium der Geologie hatte er sich entschieden, um finanziell unabhängig zu sein und damit seinen literarischen Neigungen besser nachgehen zu können. In der Sowjetunion war es nicht leicht, als Literat zu leben, wenn man nicht vollständig mit dem System übereinstimmte. Im letzteren Falle musste man längere Zeit auf die Veröffentlichung seiner Werke (und damit auf die davon abhängenden Honorare) warten. Micho Mossulischwili bemerkt dazu: „So wie meine anderen Freunde dachte auch ich, dass Literatur und auch die anderen Kunstrichtungen nicht eingeschränkt werden sollten. Sie dürfen auf keinen Fall einer Ideologie hörig sein. Sonst verschwindet beim Verschwinden der Ideologie auch das Interesse am Werk.“ Aber es kam noch ein anderer Aspekt hinzu: „Ich frage mich: Was willst du eigentlich bei der Geologie? Warum wolltest du das lernen und später darin arbeiten? Auch heute denke ich genau dasselbe wie damals: Das Leben der Geologen ist das Leben von Wandernden und Reisenden. Wer danach strebt, viel zu sehen, blickt dabei nicht nur in die geographische Landschaft und zu den dort lebenden Menschen, sondern auch in die Tiefe der Erde und der Vergangenheit.“ Seine erste Novelle „Der Waldmann“ schrieb er bereits 1982. Sie wurde 1984 in der angesehenen traditionsreichen, 1852 gegründeten literarischen Zeitschrift „Ziskari“ veröffentlicht. Während des Studiums absolvierte er im Sommer 1985 ein geologisches Praktikum in der Berg-Region Ratscha im mittleren georgischen Kaukasus-Gebiet, das er sehr genoss. Ein Jahr später schloss er das Studium ab und wurde danach als Geologe bei der Georgischen Geologisch-Geophysikalischen Gesellschaft angestellt. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er in der nordöstlich gelegenen Bergregion Pschawi eingesetzt, der Heimat des von ihm verehrten georgischen Schriftstellers Wascha Pschawela. Die Arbeit begann im Frühling. Sie zogen mit Zelten und Ausrüstung über Wiesen und Felder, nahmen Gesteinsproben und erstellten Pläne über mögliche Rohstoffvorkommen. „Diese Beschreibungen wurden auf Russisch verfasst und an das Ministerium für Bergbau der Sowjetunion geschickt.“ Die Tätigkeit war interessant und voller unerwarteter Begebenheiten. „Ich hatte alltägliche Beziehungen zu den Einheimischen in Pschawi. Ich schrieb alles in meinem Notizbuch auf, was sie mir erzählten. Die Pschawier sprachen in ihrem eigenen Dialekt, der vielleicht nicht nur ein Dialekt ist, weil diese Sprache eigentlich das Altgeorgische bewahrt hat. In diesem Dialekt schrieb der große Wascha Pschawela, dessen Werke sehr viel Gemeinsames mit Goethe, vor allem dessen Faust, haben, was ein eigenes Thema für die Literaturwissenschaft sein könnte. Für mich als Schriftsteller war die Erfahrung als Geologe in Pschawi, wo man heute noch Wascha Pschawelas Sprache spricht, äußerst fruchtbar. Dem Leben „in dieser Ecke“ fühlte ich mich sehr verbunden. Mein Notizbuch ist voller Anmerkungen zu dem, was ich dort gehört habe. Ich schrieb ganze Tagebücher und bewahrte sie auf, was ich später gut in Erzählungen verarbeiten konnte.“ 1987 heiratete er. Der Ehe entstammt eine Tochter. 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das geologische Institut in Tiflis aufgelöst und die dort beschäftigten Geologen wurden arbeitslos. Die Schwierigkeiten dieser Zeit und der Zerfall der alten Gesellschaft sind in vielen seiner Miniaturen zu spüren. Micho Mossulischwili selbst verdiente seinen Lebensunterhalt nun als Journalist bei verschiedenen Zeitungen, als freier Schriftsteller sowie als Übersetzer von Drehbüchern für die Fernsehproduktion. Daneben übersetzte er auch schöne Literatur, vor allem einige Kriminalromane des bekannten russischen Autors Boris Akunin. Zum Untergang des sowjetischen Imperiums und der Rolle Georgiens bemerkt er: „Was fühlte ich, als die Sowjetunion zusammenbrach? Ich wusste, dass es ein Land mit einer wackligen Ideologie war, die den Menschen vergessen hatte und aus den Menschen kommunistische Drachen gemacht hatte. Sie wäre auf jeden Fall auseinandergebrochen. Es gab keinen anderen Weg. Aber ich war sehr traurig, dass mein kleines Land und meine kleine Familie in den Trümmern dieses großen Imperiums verschüttet waren. Ich denke auch jetzt, dass wir uns immer noch zwischen den Trümmern des russischen Imperiums befinden und dass Russland mit seinen schleichenden Okkupationen gegen uns kämpft, dass es mit den von ihm finanzierten Gruppen und Fernsehsendern – soweit es die internationale Gemeinschaft zulässt – daran arbeitet, uns zu zähmen und wieder in sein erneuertes und modernisiertes Imperium hineinzubringen.“ Micho Mossulischwili ist heute ein äußerst fruchtbarer Autor, der vor allem auf den Gebieten der Prosa und des Dramas tätig ist. Seine Novellen und Romane sind oft auf den georgischen Bestsellerlisten zu finden, seine Theaterstücke werden an allen namhaften Theatern Georgiens gespielt, darunter auch am Akademischen Schota-Rustaweli-Theater in Tbilissi, dem ersten Theater Georgiens. Er wird häufig mit Preisen ausgezeichnet, national wie international. In Deutschland ist vor allem seine Kriminalsatire in einem Akt „Weihnachtsgans mit Quitten“ bekannt geworden, die humorvoll Kritik an der modernen Konsumgesellschaft übt. Einen Bezug zu Deutschland hat auch sein Roman „Flug ohne Fass“, in dem es – unter Anspielung auf den Fassritt Mephistos und Fausts in Auerbachs Keller – um das halblegale Dasein dreier georgischer Emigranten in deutschen Flüchtlingslagern und allgemein ihr Schicksal in Deutschland zusammen mit ein paar nigerianischen Gaunern geht. Micho Mossulischwili greift die unterschiedlichsten Themen in seinen Werken auf. Sein Interesse endet nicht an den Grenzen Georgiens. Wir werden noch viel von ihm erwarten können. Joachim Britze
Aktualisiert: 2023-06-27
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Schwäne im Schnee

Schwäne im Schnee von Britze,  Joachim;Schiolaschwili,  Irma, Mossulischwili,  Micho, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Nachwort Micho Mossulischwili wurde am 10. Dezember 1962 im Dorf Araschenda in der ostgeorgischen Provinz Kachetien geboren. Über seine Kindheit, die seine Persönlichkeit und damit auch sein literarisches Schaffen geprägt hat, teilt er mit: „Ist es eine kapitalistische Kindheit oder eine so- wjetische Kindheit? Es ist eine Kindheit und damit Schluss! Ein Kind interessiert sich nicht für das staatliche System oder die Ideologie. Meine Kindheit ist mit zwei Geschehnissen verbunden, aus denen man ersehen kann, warum ich Schriftsteller geworden bin (wenn ich wirklich einer bin). 1. Wenn in meiner Kindheit irgendeine Frau mit Kopftuch zu uns gekommen ist, forderte ich sofort, dass sie es abnehme. Tat sie es nicht, fing ich an zu weinen. Das setzte ich so lange fort, bis die erstaunten und völlig durcheinander gekommenen Frauen ihr Kopftuch abnahmen. Meine Mutter beruhigte sie immer wieder und erklärte ihnen, dass ich sogar sie von Anfang an mit Kopftuch nicht ertragen konnte und immer forderte, dass sie es abnehme. Später, als ich älter wurde, versteckte ich die Kopftücher meiner Mutter, damit sie sie nicht tragen könne. Wenn ich auch jetzt eine Frau mit Kopftuch sehe, wird mein Herz in negative Schwingungen versetzt und ich bin nahe daran, sie zu bitten, ihr Kopftuch abzunehmen und Haare und Gesicht zu zeigen, weil das der schönere Teil der Menschheit ist. Dieses kleine Detail, dass ich bei den Frauen das Kopftuch nicht ertragen konnte, weil es ihre Schönheit bedeckt, war – wie ich erst später begriffen habe, als ich groß geworden war – ein Anstoß dazu, mich so zu benehmen, dass ich den Frauen gefalle. Nach meiner damaligen Beobachtung schmeicheln die Männer den Frauen so, wie sie es nur können, um bei ihnen anzukommen, durch ihr Benehmen oder durch irgendwelche Aktionen. Dadurch habe ich angefangen, darüber nachzudenken, was ich machen könnte, um den Frauen zu gefallen. Blumen bringen? Natürlich! Aber ich habe auch entdeckt, dass ich Lebensereignisse gut beschreiben konnte. Ich konnte sogar solche Ereignisse erfinden und die Stimmen der Menschen in ihnen hören. Dass ich schreibe, soll man so verstehen, dass ich damit den Frauen als dem schöneren Teil der Menschheit gefallen möchte. Ich denke ständig, dass mir dies bis jetzt nicht völlig gelungen ist. Und deshalb versuche ich immer wieder, neue Sachen zu schreiben … 2. Seit meiner Kindheit begleitet mich noch eine andere außergewöhnliche Schönheit, die meine Seele immer nach oben brachte. Das war die Musik. Aber die Sache mit der Musik war komplizierter. Es gab eine Art von Musik, die ich nicht leiden konnte und vor der ich wegrannte. Ich schaltete entweder das Radio aus oder verließ das Zimmer, um sie nicht hören zu müssen. So sehr missfiel sie mir. Aber es gab auch die andere Art der Musik. Wenn meine Seele sie hörte, flog sie hoch und begann sich frei zu bewegen in irgendwelchen wunderschönen Gefilden, oder sie flog um seltsam stehende und seltsam sprechende Menschen herum. Das gefiel ihr sehr. Bevor ich anfing zu studieren und dabei Erzählungen zu schreiben, wusste ich nicht, warum ich einen so seltsamen Bezug zur Musik hatte. Als ich versuchte, meinen eigenen Prosastil zu finden, las ich viele Schriftsteller. Ich erlernte meinen Schreibstil von ihnen und schrieb sogar ganze Seiten bei ihnen ab, um zu verstehen, wie sie schrieben. Einige Schriftsteller standen mir nahe und von einigen wollte ich wegrennen. Hier passierte mir dasselbe wie mit der Musik, als ich klein war. Aber während ich damals nicht verstehen konnte, was mit mir los war, habe ich beim Studium der Schriftsteller folgendes verstanden: Mir steht Hermann Hesse nahe, und weit weg steht Thomas Mann. Mir steht Akutagawa nahe, und weit weg steht Kawabata. Mir steht Dostojewskij nahe, und weit weg steht Tolstoj. Mir steht Wascha Pschawela nahe, und weit weg steht Ilia Tschawtschawadze. Dabei bedeutet das überhaupt nicht, dass Thomas Mann, Kawabata, Tolstoj und Ilia Tschawtschawadze schlechte Schriftsteller seien. Sie stehen einfach weit weg von meiner inneren Natur. Später, als ich begriffen hatte, dass der Rhythmus eines jeden Werks von Musik beeinflusst ist, entdeckte ich, dass Hermann Hesses Schreibrhythmus durch Mozarts und Bachs Musik bedingt ist, und nicht beispielsweise durch Beethoven, Haydn oder Schumann. Der Rektor des Staatlichen Tifliser Konservatoriums, Professor Nodar Gabunia, hat einmal in einem Interview gesagt: ‚Von den Romantikern stehen mir Schubert und Schumann am nächsten. Meine Natur als Musiker ist fest geradeaus, nicht biegsam oder geschmeidig. Wenn wir das mit den Tieren vergleichen, habe ich wenig von der Natur der Katze in mir, mehr von der des Hundes. Die Beweglichkeit der Katze findet sich bei Mozart und Chopin, eine einschmeichelnde Beweglichkeit. Du beobachtest die Konturen und siehst keine Ecke. Bei Haydn, Beethoven und Schumann sind diese Ecken sichtbar. Ich spiele zwar selbstverständlich auch Chopin. Ich habe es aber immer vermieden, ihn auf der Bühne zu spielen, weil ich immer argwöhnte, dass es nicht das war, was es sein sollte. Ich habe auch Mozart nicht so oft gespielt. Viel lieber spielte ich Haydn, Beethoven, Schubert …‘ Das heißt, dass die (ja auch in der Psychologie bekannte) Einteilung in Katzen und Hunde ebenso wie bei den großen Komponisten auch bei den gewöhnlichen und ungewöhnlichen Menschen besteht. Hermann Hesse zum Beispiel ist eine Katze (sein autobiographischer Held Harry Haller aus dem Roman „Steppenwolf“ klammert sich in einem seiner Zauberträume an die langen Haare Mozarts und so schaukelt er auch in der Welt herum …) und Thomas Mann ist ein Hund. Katzen sind Bach, Mozart und Chopin. Hunde sind Beethoven, Haydn, Schubert und Schumann. Eine Katze ist Don Quijote und ein Hund Sancho Panza. Als ich diese psychologische Einteilung fand und mich daran erinnerte, dass ich nach dem orientalischen Kalender ein Tiger bin (da ich 1962 geboren wurde), d.h. dass ich eine Katze bin, entdeckte ich auch, dass ich seit meiner Kindheit den Katzen-Komponisten viel näher stehe. Es machte mich glücklich sie zu hören, während ich vor den Hunde-Komponisten wegrannte. Später passierte mir genau dasselbe mit der Literatur. Seitdem weiß ich, wie ich meine Werke schreiben soll. Der Stil eines jeden meiner Werke ist durch einen Komponisten oder eine Musik des Katzentyps bedingt: elastisch, knapp und ungezwungen. An diesem Zyklus von Miniaturen habe ich zum Beispiel mein ganzes Leben lang geschrieben. Ihnen liegen einzelne musikalische Phrasen von Komponisten zu Grunde. Wenn man einzelne Ausschnitte spielt, ohne sie zu beenden, und dann zu den nächsten übergeht, entsteht am Ende ein Mosaik … Was ich schreibe, kommt nicht aus anderer Literatur oder ist von anderen Schriftstellern beeinflusst, sondern ist im Grunde der Musik entnommen. Genauso suche ich immer wieder „meine Katzen-Maler“ für visuelle Vorstellungen und versuche dann, etwas zu schreiben. Diesen Zugang zur Literatur verursachten die in der Kindheit angehörten Musikarten: vor der einen bin ich weggerannt, die andere habe ich immer wieder gesucht.“ Nach der Schulzeit entschied sich Micho Mossulischwili für das Studium der Geologie und Geographie, das er 1981-1986 an der Universität von Tiflis absolvierte. Im Nebenfach studierte er Kinodramaturgie. Schon zu dieser Zeit war er schriftstellerisch tätig. Für das Studium der Geologie hatte er sich entschieden, um finanziell unabhängig zu sein und damit seinen literarischen Neigungen besser nachgehen zu können. In der Sowjetunion war es nicht leicht, als Literat zu leben, wenn man nicht vollständig mit dem System übereinstimmte. Im letzteren Falle musste man längere Zeit auf die Veröffentlichung seiner Werke (und damit auf die davon abhängenden Honorare) warten. Micho Mossulischwili bemerkt dazu: „So wie meine anderen Freunde dachte auch ich, dass Literatur und auch die anderen Kunstrichtungen nicht eingeschränkt werden sollten. Sie dürfen auf keinen Fall einer Ideologie hörig sein. Sonst verschwindet beim Verschwinden der Ideologie auch das Interesse am Werk.“ Aber es kam noch ein anderer Aspekt hinzu: „Ich frage mich: Was willst du eigentlich bei der Geologie? Warum wolltest du das lernen und später darin arbeiten? Auch heute denke ich genau dasselbe wie damals: Das Leben der Geologen ist das Leben von Wandernden und Reisenden. Wer danach strebt, viel zu sehen, blickt dabei nicht nur in die geographische Landschaft und zu den dort lebenden Menschen, sondern auch in die Tiefe der Erde und der Vergangenheit.“ Seine erste Novelle „Der Waldmann“ schrieb er bereits 1982. Sie wurde 1984 in der angesehenen traditionsreichen, 1852 gegründeten literarischen Zeitschrift „Ziskari“ veröffentlicht. Während des Studiums absolvierte er im Sommer 1985 ein geologisches Praktikum in der Berg-Region Ratscha im mittleren georgischen Kaukasus-Gebiet, das er sehr genoss. Ein Jahr später schloss er das Studium ab und wurde danach als Geologe bei der Georgischen Geologisch-Geophysikalischen Gesellschaft angestellt. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er in der nordöstlich gelegenen Bergregion Pschawi eingesetzt, der Heimat des von ihm verehrten georgischen Schriftstellers Wascha Pschawela. Die Arbeit begann im Frühling. Sie zogen mit Zelten und Ausrüstung über Wiesen und Felder, nahmen Gesteinsproben und erstellten Pläne über mögliche Rohstoffvorkommen. „Diese Beschreibungen wurden auf Russisch verfasst und an das Ministerium für Bergbau der Sowjetunion geschickt.“ Die Tätigkeit war interessant und voller unerwarteter Begebenheiten. „Ich hatte alltägliche Beziehungen zu den Einheimischen in Pschawi. Ich schrieb alles in meinem Notizbuch auf, was sie mir erzählten. Die Pschawier sprachen in ihrem eigenen Dialekt, der vielleicht nicht nur ein Dialekt ist, weil diese Sprache eigentlich das Altgeorgische bewahrt hat. In diesem Dialekt schrieb der große Wascha Pschawela, dessen Werke sehr viel Gemeinsames mit Goethe, vor allem dessen Faust, haben, was ein eigenes Thema für die Literaturwissenschaft sein könnte. Für mich als Schriftsteller war die Erfahrung als Geologe in Pschawi, wo man heute noch Wascha Pschawelas Sprache spricht, äußerst fruchtbar. Dem Leben „in dieser Ecke“ fühlte ich mich sehr verbunden. Mein Notizbuch ist voller Anmerkungen zu dem, was ich dort gehört habe. Ich schrieb ganze Tagebücher und bewahrte sie auf, was ich später gut in Erzählungen verarbeiten konnte.“ 1987 heiratete er. Der Ehe entstammt eine Tochter. 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das geologische Institut in Tiflis aufgelöst und die dort beschäftigten Geologen wurden arbeitslos. Die Schwierigkeiten dieser Zeit und der Zerfall der alten Gesellschaft sind in vielen seiner Miniaturen zu spüren. Micho Mossulischwili selbst verdiente seinen Lebensunterhalt nun als Journalist bei verschiedenen Zeitungen, als freier Schriftsteller sowie als Übersetzer von Drehbüchern für die Fernsehproduktion. Daneben übersetzte er auch schöne Literatur, vor allem einige Kriminalromane des bekannten russischen Autors Boris Akunin. Zum Untergang des sowjetischen Imperiums und der Rolle Georgiens bemerkt er: „Was fühlte ich, als die Sowjetunion zusammenbrach? Ich wusste, dass es ein Land mit einer wackligen Ideologie war, die den Menschen vergessen hatte und aus den Menschen kommunistische Drachen gemacht hatte. Sie wäre auf jeden Fall auseinandergebrochen. Es gab keinen anderen Weg. Aber ich war sehr traurig, dass mein kleines Land und meine kleine Familie in den Trümmern dieses großen Imperiums verschüttet waren. Ich denke auch jetzt, dass wir uns immer noch zwischen den Trümmern des russischen Imperiums befinden und dass Russland mit seinen schleichenden Okkupationen gegen uns kämpft, dass es mit den von ihm finanzierten Gruppen und Fernsehsendern – soweit es die internationale Gemeinschaft zulässt – daran arbeitet, uns zu zähmen und wieder in sein erneuertes und modernisiertes Imperium hineinzubringen.“ Micho Mossulischwili ist heute ein äußerst fruchtbarer Autor, der vor allem auf den Gebieten der Prosa und des Dramas tätig ist. Seine Novellen und Romane sind oft auf den georgischen Bestsellerlisten zu finden, seine Theaterstücke werden an allen namhaften Theatern Georgiens gespielt, darunter auch am Akademischen Schota-Rustaweli-Theater in Tbilissi, dem ersten Theater Georgiens. Er wird häufig mit Preisen ausgezeichnet, national wie international. In Deutschland ist vor allem seine Kriminalsatire in einem Akt „Weihnachtsgans mit Quitten“ bekannt geworden, die humorvoll Kritik an der modernen Konsumgesellschaft übt. Einen Bezug zu Deutschland hat auch sein Roman „Flug ohne Fass“, in dem es – unter Anspielung auf den Fassritt Mephistos und Fausts in Auerbachs Keller – um das halblegale Dasein dreier georgischer Emigranten in deutschen Flüchtlingslagern und allgemein ihr Schicksal in Deutschland zusammen mit ein paar nigerianischen Gaunern geht. Micho Mossulischwili greift die unterschiedlichsten Themen in seinen Werken auf. Sein Interesse endet nicht an den Grenzen Georgiens. Wir werden noch viel von ihm erwarten können. Joachim Britze
Aktualisiert: 2023-06-27
> findR *

Schwäne im Schnee

Schwäne im Schnee von Britze,  Joachim;Schiolaschwili,  Irma, Mossulischwili,  Micho, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Nachwort Micho Mossulischwili wurde am 10. Dezember 1962 im Dorf Araschenda in der ostgeorgischen Provinz Kachetien geboren. Über seine Kindheit, die seine Persönlichkeit und damit auch sein literarisches Schaffen geprägt hat, teilt er mit: „Ist es eine kapitalistische Kindheit oder eine so- wjetische Kindheit? Es ist eine Kindheit und damit Schluss! Ein Kind interessiert sich nicht für das staatliche System oder die Ideologie. Meine Kindheit ist mit zwei Geschehnissen verbunden, aus denen man ersehen kann, warum ich Schriftsteller geworden bin (wenn ich wirklich einer bin). 1. Wenn in meiner Kindheit irgendeine Frau mit Kopftuch zu uns gekommen ist, forderte ich sofort, dass sie es abnehme. Tat sie es nicht, fing ich an zu weinen. Das setzte ich so lange fort, bis die erstaunten und völlig durcheinander gekommenen Frauen ihr Kopftuch abnahmen. Meine Mutter beruhigte sie immer wieder und erklärte ihnen, dass ich sogar sie von Anfang an mit Kopftuch nicht ertragen konnte und immer forderte, dass sie es abnehme. Später, als ich älter wurde, versteckte ich die Kopftücher meiner Mutter, damit sie sie nicht tragen könne. Wenn ich auch jetzt eine Frau mit Kopftuch sehe, wird mein Herz in negative Schwingungen versetzt und ich bin nahe daran, sie zu bitten, ihr Kopftuch abzunehmen und Haare und Gesicht zu zeigen, weil das der schönere Teil der Menschheit ist. Dieses kleine Detail, dass ich bei den Frauen das Kopftuch nicht ertragen konnte, weil es ihre Schönheit bedeckt, war – wie ich erst später begriffen habe, als ich groß geworden war – ein Anstoß dazu, mich so zu benehmen, dass ich den Frauen gefalle. Nach meiner damaligen Beobachtung schmeicheln die Männer den Frauen so, wie sie es nur können, um bei ihnen anzukommen, durch ihr Benehmen oder durch irgendwelche Aktionen. Dadurch habe ich angefangen, darüber nachzudenken, was ich machen könnte, um den Frauen zu gefallen. Blumen bringen? Natürlich! Aber ich habe auch entdeckt, dass ich Lebensereignisse gut beschreiben konnte. Ich konnte sogar solche Ereignisse erfinden und die Stimmen der Menschen in ihnen hören. Dass ich schreibe, soll man so verstehen, dass ich damit den Frauen als dem schöneren Teil der Menschheit gefallen möchte. Ich denke ständig, dass mir dies bis jetzt nicht völlig gelungen ist. Und deshalb versuche ich immer wieder, neue Sachen zu schreiben … 2. Seit meiner Kindheit begleitet mich noch eine andere außergewöhnliche Schönheit, die meine Seele immer nach oben brachte. Das war die Musik. Aber die Sache mit der Musik war komplizierter. Es gab eine Art von Musik, die ich nicht leiden konnte und vor der ich wegrannte. Ich schaltete entweder das Radio aus oder verließ das Zimmer, um sie nicht hören zu müssen. So sehr missfiel sie mir. Aber es gab auch die andere Art der Musik. Wenn meine Seele sie hörte, flog sie hoch und begann sich frei zu bewegen in irgendwelchen wunderschönen Gefilden, oder sie flog um seltsam stehende und seltsam sprechende Menschen herum. Das gefiel ihr sehr. Bevor ich anfing zu studieren und dabei Erzählungen zu schreiben, wusste ich nicht, warum ich einen so seltsamen Bezug zur Musik hatte. Als ich versuchte, meinen eigenen Prosastil zu finden, las ich viele Schriftsteller. Ich erlernte meinen Schreibstil von ihnen und schrieb sogar ganze Seiten bei ihnen ab, um zu verstehen, wie sie schrieben. Einige Schriftsteller standen mir nahe und von einigen wollte ich wegrennen. Hier passierte mir dasselbe wie mit der Musik, als ich klein war. Aber während ich damals nicht verstehen konnte, was mit mir los war, habe ich beim Studium der Schriftsteller folgendes verstanden: Mir steht Hermann Hesse nahe, und weit weg steht Thomas Mann. Mir steht Akutagawa nahe, und weit weg steht Kawabata. Mir steht Dostojewskij nahe, und weit weg steht Tolstoj. Mir steht Wascha Pschawela nahe, und weit weg steht Ilia Tschawtschawadze. Dabei bedeutet das überhaupt nicht, dass Thomas Mann, Kawabata, Tolstoj und Ilia Tschawtschawadze schlechte Schriftsteller seien. Sie stehen einfach weit weg von meiner inneren Natur. Später, als ich begriffen hatte, dass der Rhythmus eines jeden Werks von Musik beeinflusst ist, entdeckte ich, dass Hermann Hesses Schreibrhythmus durch Mozarts und Bachs Musik bedingt ist, und nicht beispielsweise durch Beethoven, Haydn oder Schumann. Der Rektor des Staatlichen Tifliser Konservatoriums, Professor Nodar Gabunia, hat einmal in einem Interview gesagt: ‚Von den Romantikern stehen mir Schubert und Schumann am nächsten. Meine Natur als Musiker ist fest geradeaus, nicht biegsam oder geschmeidig. Wenn wir das mit den Tieren vergleichen, habe ich wenig von der Natur der Katze in mir, mehr von der des Hundes. Die Beweglichkeit der Katze findet sich bei Mozart und Chopin, eine einschmeichelnde Beweglichkeit. Du beobachtest die Konturen und siehst keine Ecke. Bei Haydn, Beethoven und Schumann sind diese Ecken sichtbar. Ich spiele zwar selbstverständlich auch Chopin. Ich habe es aber immer vermieden, ihn auf der Bühne zu spielen, weil ich immer argwöhnte, dass es nicht das war, was es sein sollte. Ich habe auch Mozart nicht so oft gespielt. Viel lieber spielte ich Haydn, Beethoven, Schubert …‘ Das heißt, dass die (ja auch in der Psychologie bekannte) Einteilung in Katzen und Hunde ebenso wie bei den großen Komponisten auch bei den gewöhnlichen und ungewöhnlichen Menschen besteht. Hermann Hesse zum Beispiel ist eine Katze (sein autobiographischer Held Harry Haller aus dem Roman „Steppenwolf“ klammert sich in einem seiner Zauberträume an die langen Haare Mozarts und so schaukelt er auch in der Welt herum …) und Thomas Mann ist ein Hund. Katzen sind Bach, Mozart und Chopin. Hunde sind Beethoven, Haydn, Schubert und Schumann. Eine Katze ist Don Quijote und ein Hund Sancho Panza. Als ich diese psychologische Einteilung fand und mich daran erinnerte, dass ich nach dem orientalischen Kalender ein Tiger bin (da ich 1962 geboren wurde), d.h. dass ich eine Katze bin, entdeckte ich auch, dass ich seit meiner Kindheit den Katzen-Komponisten viel näher stehe. Es machte mich glücklich sie zu hören, während ich vor den Hunde-Komponisten wegrannte. Später passierte mir genau dasselbe mit der Literatur. Seitdem weiß ich, wie ich meine Werke schreiben soll. Der Stil eines jeden meiner Werke ist durch einen Komponisten oder eine Musik des Katzentyps bedingt: elastisch, knapp und ungezwungen. An diesem Zyklus von Miniaturen habe ich zum Beispiel mein ganzes Leben lang geschrieben. Ihnen liegen einzelne musikalische Phrasen von Komponisten zu Grunde. Wenn man einzelne Ausschnitte spielt, ohne sie zu beenden, und dann zu den nächsten übergeht, entsteht am Ende ein Mosaik … Was ich schreibe, kommt nicht aus anderer Literatur oder ist von anderen Schriftstellern beeinflusst, sondern ist im Grunde der Musik entnommen. Genauso suche ich immer wieder „meine Katzen-Maler“ für visuelle Vorstellungen und versuche dann, etwas zu schreiben. Diesen Zugang zur Literatur verursachten die in der Kindheit angehörten Musikarten: vor der einen bin ich weggerannt, die andere habe ich immer wieder gesucht.“ Nach der Schulzeit entschied sich Micho Mossulischwili für das Studium der Geologie und Geographie, das er 1981-1986 an der Universität von Tiflis absolvierte. Im Nebenfach studierte er Kinodramaturgie. Schon zu dieser Zeit war er schriftstellerisch tätig. Für das Studium der Geologie hatte er sich entschieden, um finanziell unabhängig zu sein und damit seinen literarischen Neigungen besser nachgehen zu können. In der Sowjetunion war es nicht leicht, als Literat zu leben, wenn man nicht vollständig mit dem System übereinstimmte. Im letzteren Falle musste man längere Zeit auf die Veröffentlichung seiner Werke (und damit auf die davon abhängenden Honorare) warten. Micho Mossulischwili bemerkt dazu: „So wie meine anderen Freunde dachte auch ich, dass Literatur und auch die anderen Kunstrichtungen nicht eingeschränkt werden sollten. Sie dürfen auf keinen Fall einer Ideologie hörig sein. Sonst verschwindet beim Verschwinden der Ideologie auch das Interesse am Werk.“ Aber es kam noch ein anderer Aspekt hinzu: „Ich frage mich: Was willst du eigentlich bei der Geologie? Warum wolltest du das lernen und später darin arbeiten? Auch heute denke ich genau dasselbe wie damals: Das Leben der Geologen ist das Leben von Wandernden und Reisenden. Wer danach strebt, viel zu sehen, blickt dabei nicht nur in die geographische Landschaft und zu den dort lebenden Menschen, sondern auch in die Tiefe der Erde und der Vergangenheit.“ Seine erste Novelle „Der Waldmann“ schrieb er bereits 1982. Sie wurde 1984 in der angesehenen traditionsreichen, 1852 gegründeten literarischen Zeitschrift „Ziskari“ veröffentlicht. Während des Studiums absolvierte er im Sommer 1985 ein geologisches Praktikum in der Berg-Region Ratscha im mittleren georgischen Kaukasus-Gebiet, das er sehr genoss. Ein Jahr später schloss er das Studium ab und wurde danach als Geologe bei der Georgischen Geologisch-Geophysikalischen Gesellschaft angestellt. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er in der nordöstlich gelegenen Bergregion Pschawi eingesetzt, der Heimat des von ihm verehrten georgischen Schriftstellers Wascha Pschawela. Die Arbeit begann im Frühling. Sie zogen mit Zelten und Ausrüstung über Wiesen und Felder, nahmen Gesteinsproben und erstellten Pläne über mögliche Rohstoffvorkommen. „Diese Beschreibungen wurden auf Russisch verfasst und an das Ministerium für Bergbau der Sowjetunion geschickt.“ Die Tätigkeit war interessant und voller unerwarteter Begebenheiten. „Ich hatte alltägliche Beziehungen zu den Einheimischen in Pschawi. Ich schrieb alles in meinem Notizbuch auf, was sie mir erzählten. Die Pschawier sprachen in ihrem eigenen Dialekt, der vielleicht nicht nur ein Dialekt ist, weil diese Sprache eigentlich das Altgeorgische bewahrt hat. In diesem Dialekt schrieb der große Wascha Pschawela, dessen Werke sehr viel Gemeinsames mit Goethe, vor allem dessen Faust, haben, was ein eigenes Thema für die Literaturwissenschaft sein könnte. Für mich als Schriftsteller war die Erfahrung als Geologe in Pschawi, wo man heute noch Wascha Pschawelas Sprache spricht, äußerst fruchtbar. Dem Leben „in dieser Ecke“ fühlte ich mich sehr verbunden. Mein Notizbuch ist voller Anmerkungen zu dem, was ich dort gehört habe. Ich schrieb ganze Tagebücher und bewahrte sie auf, was ich später gut in Erzählungen verarbeiten konnte.“ 1987 heiratete er. Der Ehe entstammt eine Tochter. 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das geologische Institut in Tiflis aufgelöst und die dort beschäftigten Geologen wurden arbeitslos. Die Schwierigkeiten dieser Zeit und der Zerfall der alten Gesellschaft sind in vielen seiner Miniaturen zu spüren. Micho Mossulischwili selbst verdiente seinen Lebensunterhalt nun als Journalist bei verschiedenen Zeitungen, als freier Schriftsteller sowie als Übersetzer von Drehbüchern für die Fernsehproduktion. Daneben übersetzte er auch schöne Literatur, vor allem einige Kriminalromane des bekannten russischen Autors Boris Akunin. Zum Untergang des sowjetischen Imperiums und der Rolle Georgiens bemerkt er: „Was fühlte ich, als die Sowjetunion zusammenbrach? Ich wusste, dass es ein Land mit einer wackligen Ideologie war, die den Menschen vergessen hatte und aus den Menschen kommunistische Drachen gemacht hatte. Sie wäre auf jeden Fall auseinandergebrochen. Es gab keinen anderen Weg. Aber ich war sehr traurig, dass mein kleines Land und meine kleine Familie in den Trümmern dieses großen Imperiums verschüttet waren. Ich denke auch jetzt, dass wir uns immer noch zwischen den Trümmern des russischen Imperiums befinden und dass Russland mit seinen schleichenden Okkupationen gegen uns kämpft, dass es mit den von ihm finanzierten Gruppen und Fernsehsendern – soweit es die internationale Gemeinschaft zulässt – daran arbeitet, uns zu zähmen und wieder in sein erneuertes und modernisiertes Imperium hineinzubringen.“ Micho Mossulischwili ist heute ein äußerst fruchtbarer Autor, der vor allem auf den Gebieten der Prosa und des Dramas tätig ist. Seine Novellen und Romane sind oft auf den georgischen Bestsellerlisten zu finden, seine Theaterstücke werden an allen namhaften Theatern Georgiens gespielt, darunter auch am Akademischen Schota-Rustaweli-Theater in Tbilissi, dem ersten Theater Georgiens. Er wird häufig mit Preisen ausgezeichnet, national wie international. In Deutschland ist vor allem seine Kriminalsatire in einem Akt „Weihnachtsgans mit Quitten“ bekannt geworden, die humorvoll Kritik an der modernen Konsumgesellschaft übt. Einen Bezug zu Deutschland hat auch sein Roman „Flug ohne Fass“, in dem es – unter Anspielung auf den Fassritt Mephistos und Fausts in Auerbachs Keller – um das halblegale Dasein dreier georgischer Emigranten in deutschen Flüchtlingslagern und allgemein ihr Schicksal in Deutschland zusammen mit ein paar nigerianischen Gaunern geht. Micho Mossulischwili greift die unterschiedlichsten Themen in seinen Werken auf. Sein Interesse endet nicht an den Grenzen Georgiens. Wir werden noch viel von ihm erwarten können. Joachim Britze
Aktualisiert: 2023-06-27
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Winzige Freunde

Winzige Freunde von Chotiwari-Jünger,  Steffi;Chotiwari,  Artschil, Lomouri,  Niko, Papuaschwili,  Mariam, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Vor Euch liegen vier Märchen und eine Geschichte aus Georgien. Wir haben Euch die bei den georgischen Kindern am beliebtesten und bekanntesten literarischen Arbeiten ausgesucht, die wir einst selbst und auch unsere Kinder mit Vergnügen gelesen haben. Sie sind lustig und locker, sie geben Mut und Kraft, machen nachdenklich und regen an, im Leben aktiv sowie gewandt zu sein und nicht alles als gegeben hinzunehmen. Einen besonderen Platz nimmt das Thema der Freundschaft ein und die Erfahrung, dass sich Mühe und Ausdauer auszahlen.
Aktualisiert: 2023-06-27
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Winzige Freunde

Winzige Freunde von Chotiwari-Jünger,  Steffi;Chotiwari,  Artschil, Lomouri,  Niko, Papuaschwili,  Mariam, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Vor Euch liegen vier Märchen und eine Geschichte aus Georgien. Wir haben Euch die bei den georgischen Kindern am beliebtesten und bekanntesten literarischen Arbeiten ausgesucht, die wir einst selbst und auch unsere Kinder mit Vergnügen gelesen haben. Sie sind lustig und locker, sie geben Mut und Kraft, machen nachdenklich und regen an, im Leben aktiv sowie gewandt zu sein und nicht alles als gegeben hinzunehmen. Einen besonderen Platz nimmt das Thema der Freundschaft ein und die Erfahrung, dass sich Mühe und Ausdauer auszahlen.
Aktualisiert: 2023-06-27
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Winzige Freunde

Winzige Freunde von Chotiwari-Jünger,  Steffi;Chotiwari,  Artschil, Lomouri,  Niko, Papuaschwili,  Mariam, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Vor Euch liegen vier Märchen und eine Geschichte aus Georgien. Wir haben Euch die bei den georgischen Kindern am beliebtesten und bekanntesten literarischen Arbeiten ausgesucht, die wir einst selbst und auch unsere Kinder mit Vergnügen gelesen haben. Sie sind lustig und locker, sie geben Mut und Kraft, machen nachdenklich und regen an, im Leben aktiv sowie gewandt zu sein und nicht alles als gegeben hinzunehmen. Einen besonderen Platz nimmt das Thema der Freundschaft ein und die Erfahrung, dass sich Mühe und Ausdauer auszahlen.
Aktualisiert: 2023-06-27
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Urbild der Stadt. Über die poetische Konstruktion einer Stadt Eintausend Jahre Kulturgeschichte in Calw und Hirsau im württembergischen Schwarzwald.

Urbild der Stadt. Über die poetische Konstruktion einer Stadt Eintausend Jahre Kulturgeschichte in Calw und Hirsau im württembergischen Schwarzwald. von Rothfuss,  Uli
Calw ist nicht die Welt, aber in dem Reichtum seiner geistigen Traditionen ein Sammel- und Ausgangspunkt vieler bedeutender Strömungen und Personen, und damit dann eben doch „die Welt im Kleinen“ – denn, wie Goethe seinerseits aus dem kleinen „Weltstädtchen Weimar“ schreiben konnte: Wer lange in bedeutenden Verhältnissen lebt, dem begegnet freilich nicht alles, was dem Menschen begegnen kann, aber doch das Analoge und vielleicht einiges, was ohne Beispiel war. Uli Rothfuss
Aktualisiert: 2023-05-30
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Mit den Augen von Morgen

Mit den Augen von Morgen von Aramazd,  Sevak, Avagyan,  Arevshat, Davoyan,  Razmik, Edoyan,  Henrik, Galstyan,  Gohar, Grigoryan,  Hovhannes, Hakobyan,  Vardan, Harents,  Edvard, Hovhannes,  Davit, Karapetyan,  Andranik, Manukyan,  Khachik, Militonyan,  Edvard, Movses,  Hakob, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli, Sarukhan,  Hrachya, Voskanyan,  Ruzanna, Wöhrmann,  Bettina
Mein besonderer Dank gilt Albert Nalbandyan, Chefredakteur der Zeitschrift Literaturnaja Armenia, durch dessen Arbeit diese Anthologie erst möglich wurde. Er hat nach unseren Gesprächen im Jahr 2019 in Jerewan die Texte der älteren Generation ausgewählt und ins Russische übersetzt. Des Weiteren danke ich Edvard Militonyan, der die Texte der jüngeren Generation ausgewählt hat, sowie den jeweils erwähnten Übersetzern ins Russische. Mein ganz persönlicher Dank geht an Sevak Aramazd, der mir bei meiner Arbeit stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Nicht zuletzt danke ich allen in dieser Anthologie vertretenen Autorinnen und Autoren für ihre wunderbaren Texte. Bettina Wöhrmann Übersetzer und Übersetzerinnen Albert Nalbandyan (Texte der älteren Generation), Konstantin Sharakyan (Gohar Galstyan, Khachik Manukyan), Gurgen Barents (Gohar Galstyan, Edvard Harents, Andranik Karapetyan), Gayane Harutyunyan (Edvard Harents), Lilit Meliksetyan (Edvard Harents) übersetzten die Texte der genannten Autoren aus dem Armenischen ins Russische. Edvard Militonyan stellte die weiteren Texte der jüngeren Generation in russischer Sprache zur Verfügung. Die Texte von Sevak Aramazd wurden vom Autor selbst wörtlich ins Deutsche übertragen. Auf Basis dieser Übersetzungen entstanden die deutschen Fassungen von Bettina Wöhrmann.
Aktualisiert: 2023-05-30
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Wenn das Lied sich vom ermüdeten Körper befreit.

Wenn das Lied sich vom ermüdeten Körper befreit. von Barbakadse,  Dato, Chotiwari-Jünger,  Steffi;Chotiwari,  Artschil;Lisowski,  Maja;Crauss;Ledebur,  Benedikt, Gehrisch,  Peter, Rothfuss,  Uli, Traian,  Pop
Das Curriculum Vitae des Dichters, der 1966 in Tiflis zur Welt kommt, kann ... Aufschlussreiches vermitteln. Nach der Schule erlernt Barbakadse das Schlosserhandwerk und ist auf diese Weise mit Statik und Mechanik der Metalle befasst, ein Arbeitsgebiet, das ihm eine Basis realen Daseins vermittelt. Noch als Sowjetbürger leistet er zwei Jahre lang seinen Militärdienst (d.h. Unterordnung und Brüte-Station für den eingeschlossenen Geist), dann folgt das Studium der Philosophie, Soziologie und der Alten Geschichte. Der Versuch der Kommunikation mit seinesgleichen, die – selbstredend – seinesgleichen nicht sind, gestaltet sich als weniger lenkbar. So nämlich erfährt er sich als Outcast, entfernt sich für einige Zeit von Haus und Heim, gelangt 2002 nach Deutschland und gründet 2005 das Buchreihenprojekt Öster- reichische Lyrik des 20. Jahrhunderts, dessen Leitung er über- nimmt. Damit stellen sich für Barbakadse (der die wissenschaftliche Laufbahn zugunsten der Dichtung verließ) denkbare Positionen zum Zwiegespräch ein. Peter Gehrisch
Aktualisiert: 2023-05-30
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So liebte man in Georgien.

So liebte man in Georgien. von Assatiani,  Guram, Chogoshvili,  Levan, Lisowski,  Maja;Paitschadse,  Manana, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Anna Letodiani Guram Assatiani – Forscher des georgischen Charakters Die georgische Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts bereicherten einige ausgewählte Forscher. Zu ihnen zählt auch Guram Assatiani, „ein wahrer Ästhetiker und ein fantasievoller Literat vom Scheitel bis zur Sohle“, wie er später von einem Kollegen genannt wurde. Guram Assatiani wurde 1928 in die Familie des berühmten georgischen Literaten Lewan Assatiani in Tbilisi geboren. Ab 1946 studierte er an der Lomonosow-Universität die westeuropäische Literatur. Seine Doktorarbeit über die georgisch-französischen Beziehungen verteidigte er in Moskau. Danach kehrte er nach Georgien zurück und arbeitete bei einer renommierten russischsprachigen Literaturzeitschrift, wo er für russische Leser Artikel über georgische Literatur schrieb. Parallel dazu hielt er Vorlesungen über verschiedene Fragestellungen der georgischen Literatur und leitete die Abteilung der georgischen Literatur aus dem 19. Jahrhundert am georgischen Literaturinstitut. 1977 schrieb Guram Assatiani seine Doktorarbeit über das Thema „Die Evolution des georgischen Dichterdenkens im 19. Jahrhundert“. 1978 war er der leitende Redakteur der Zeitschrift „Literaturnaja Grusija“ („Literarisches Georgien“). Ab da unterstützte er noch intensiver, dass georgische Schriftsteller in den Blickwinkel russischer Leser gerieten und bekannt wurden. Im April 1982 wurde das Hauptwerk Guram Assatianis „Zu den Ursprüngen“ veröffentlicht. Das war das letzte Buch, das zu seinen Lebzeiten herausgegeben wurde. Der Forscher verstarb nach einer schweren Krankheit im Juni 1982, mit nur 54 Jahren. Ungeachtet dessen, dass das literatur-wissenschaftliche Erbe Guram Assatianis mehrere Werke umfasst, hielt der Autor den Prozess des Schreibens für eine sehr komplizierte Beschäftigung und dachte, dass diese Tätigkeit mit einer enormen Verantwortung verbunden sei. Der Schreibstil Assatianis ist ästhetisch ausgerichtet. Wissenschaftliche Zeugnisse der verwendeten Literatur werden wir bei ihm niemals antreffen. Die Ansichten, Einschätzungen und Konzepte, die er in seinen Artikeln vertritt, sind eher intuitiv, aber diese Reflexionen und freie Interpretationen stützen sich auf eine breite Erudition und klassische Bildung und erhalten dadurch ihren besonderen Wert. Seine Schreibweise zeichnet sich auch durch eine gewisse Pathetik aus. Sie ist jedoch niemals unecht oder plakativ. „Zu den Ursprüngen“ von Guram Assatiani, dessen Auszug hier vorgestellt wird, zeigt dem interessierten deutschen Leser den georgischen Charakter, generell die georgische Ästhetik und die zentralen Aspekte der ästhetischen Welt auf. Etwas Vergleichbares gab es vorher nie in der georgischen Literaturwissenschaft. Guram Assatiani erforschte den georgischen Charakter anhand der georgischen schöngeistigen Literatur und der Folklore, denn er hielt gerade die Literatur als Emanation des geistigen Wesens einer Nation. Nach den Beobachtungen des Autor neigt die georgische Natur zu Extremitäten: Im Falle einer optimistischen Gemütslage denken die Georgier, sie seien die Besten, und wenn sie kein Glück haben, verfallen sie leicht der Hoffnungslosigkeit und halten sich für die Beklagenswertesten der Welt. Für eines der fundamentalen Wesen der ästhetischen Natur des georgischen Volkes hält der Autor die Übereinstimmung der seelischen und fleischlichen Ursprünge und um diese Ansicht zu untermauern, wendet er Schota Rustawelis „Der Recke im Pantherfell“ und Wascha-Pschawelas Literatur an. Seiner Meinung nach wird die ästhetische Natur der Georgier in der literarischen Weltanschauung gerade dieser beiden Dichter auf eine vollkommene Art und Weise dargestellt. Nach dem allbekannten Schema des apollinischen und dionysischen Ursprungs von Nietzsche kann man zweifelsohne die Kunst jedes beliebigen Kulturvolkes analysieren. Guram Assatiani vermeidet aber dieses Schema auf den georgischen Charakter automatisch anzuwenden. Er denkt, dass für die georgische Kultur ausgehend aus der georgischen Natur Prometheus, das Abbild des unbeugsamen Gottes eher in Frage käme. Nach den Beobachtungen des Autors ist auch die ost- westliche Synthese ein Merkmal des georgischen Charakters. Zwar vertritt er die Ansicht, dass in der georgischen Literatur die östlichen und westlichen Ursprünge einander gegenüber stehen, aber in dieser Gegenüberstellung und in ihrem Kampf wird kein „Verlierer“ vollends zerstört. Öfter erschaffen diese Ursprünge eine seltene Einheit. Als Beispiel für die harmonische Einheit der östlichen und westlichen Tendenzen führt Guram Assatiani „Den Recken im Pantherfell“ an, obwohl er auch betont, dass trotz der ost-westlichen Synthese das Werk Rustawelis dennoch eine Erscheinung des rein nationalen Charakters sei. Wie im „Gilgamesch-Epos“, in der „Illias“, der „Odysee“, in „Schahname“ und der „Göttlichen Komödie“ wird auch im „Der Recke im Pantherfell“ die Tendenz vereint, die für den alten Orient, für die antike Kultur und die christliche Weltanschauung charakteristisch sind. Guram Assatiani betont jene negativen Eigenschaften der georgischen Natur, wie Faulheit und Angeberei. Um diese Merkmale darzustellen, bediente er sich eines der bekanntesten Helden der georgischen Märchen: Der Aschenstocherer. Ein weiteres Charakteristikum der georgischen Natur ist für ihn das Streben zum „Ruhm“, und nennt das höchste Ideal sich ruhmreich zu zeigen, die Aufopferung für die Heimat. Ungeachtet dessen, dass Guram Assatiani die Feindseligkeiten der Georgier einander gegenüber für ein wesentliches Manko hält, betont er im gleichen Zug, dass Georgier zu jener Kategorie der Nationen angehören, bei denen das Gefühl der Freundschaft besonders ausgebildet ist. Seiner Meinung nach gibt es keinen Georgier, der keine Freunde hat und die Basis der Freundschaft beruht eher auf Unterschiedlichkeiten und nicht auf Ähnlichkeiten. Weiter führt er noch an, dass ein Georgier sich immer auf einer Bühne vorstellt. Er spürt stets unentwegte Blicke anderer und lebt in ständiger Begleitung dieser Blicke. Für Guram Assatiani, der ein Vertreter einer Nation ist, die zwar eine uralte Kultur besitzt aber zahlenmäßig klein ist, ist die Grundlage des Optimismus das ewige Streben der georgischen Seele nach Erneuerungen. In diesem Wesen sieht er die besondere Überlebenskraft und das dichterische Potenzial der nationalen Energie aller Georgier. Als Muster der georgischen Ästhetik wird Guram Assatianis Brief „So liebte man in Georgien“ angesehen, der auch in der Ausgabe vertreten ist. Das spezifische Erscheinungsbild der Liebe hält der Forscher für eines der Charaktermerkmale einer jeden Nation. Er versucht seine eigenen Ansichten zu verteidigen, indem er Beispiele und Helden aus unterschiedlichen Epochen und Genres anführt. Nach einer ausführlichen Diskussion beschließt Guram Assatiani letzten Endens, dass die Form der Liebe in der georgischen Poesie eine tragische ist. Seiner Meinung nach verursacht die Tragik jenes Gefühl, das durch eine vollkommene Glückseligkeit unerreichbar sei, dass das ein Wunsch sei, der nie in Erfüllung geht. Das Wesen der georgischen Natur äußert sich eben wegen dieser Unerreichbarkeit in der selbstlosen Suche der eigenen Spuren. Was „Die letzte Unterhaltung“ angeht, so wurde diese in einem Krankenhaus aufgezeichnet, kurz vor dem Tod Guram Assatianis. Das Thema dieser Unterhaltung ist „Der Recke im Pantherfell“, als Gipfel der ost-westlichen Synthese. Der Anhang der vorliegenden Ausgabe umfasst einen polemischen Artikel „Ein lauter Weckruf“ von Akaki Bakradse (1928-1999), dem bekannten georgische Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts. Den schrieb er als Antwort auf Guram Assatianis Hauptwerk. Die Ansichten, die er in diesem Artikel vertritt, beeinflussten nachhaltig die Forschungen an der georgischen ästhetischen Natur und generell am georgischen Phänomen. Besonders standhaft erwies sich die Bakradse-Interpretation des Aschenstocherer-Phänomens. Historisch gesehen mussten die Georgier überwiegend Verteidigungskämpfe austragen. Georgien hatte noch nie einen Feind, der schwächer gewesen wäre. Der Gegner war stets stärker. Um zu überleben und die eigene Identität aufrechtzuerhalten, war Überlegenheit und Wendigkeit gefragt. Akaki Bakradse merkt an, dass gerade dadurch das Paradigma des Ascherstocherers erschaffen wurde. Wegen seiner Klugheit und Wendigkeit ist er dem Riesen immer überlegen. Seine Faulheit und Prahlerei sind nur eine Mystifizierung, eine Maske. In der Beziehung des Aschenstocherers und des Riesen äußert sich das Modell der georgischen Geschichte. Unser Land hätte im ungleichen Kampf gegen den Feind nur das Ideal des Aschenstocherers retten können. Also, die Eigenschaften des Aschenstocherer (oder eines Georgiers) sind die Klugheit und Wendigkeit und nicht die Faulheit und Prahlerei. Genau diese Herangehensweise ermöglicht den Georgiern nach Bakradse die Grundlagen für den Optimismus zu erschaffen. Wenn Guram Assatiani schreibt, dass den georgischen Charakter die Synthese des Seelischen und des Materiellen ausmacht, so glaubt Akaki Bakradse, dass im entscheidenden Moment das Seelische das Materielle bezwingen sollte. Eben darum konnte sich die georgische nationale Seele in der Vergangenheit nicht gänzlich herausbilden. Das ist die Angelegenheit in der Zukunft und kann erst dann geschehen, wenn wir das Seelische und das Materielle harmonisch miteinander verbinden können, und wenn wir vor der Wahl stehen, dann entscheiden wir uns für das Seelische. Und schließlich müssen wir anmerken, dass die Texte von Guram Assatiani und Akaki Bakradse, die hier vorgestellt werden, in der georgischen Literatur auch heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben. Über die Fragen, die von diesen zwei Literaten gestellt und analysiert werden, sind schon unzählige große und mittlere Arbeiten geschrieben worden.
Aktualisiert: 2023-05-30
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Nichts heißt keine Farbe

Nichts heißt keine Farbe von Chotiwari-Jünger,  Steffi;Chotiwari,  Artschil;Chotiwari-Jünger,  Steffi, Oniani,  Esma, Rothfuss,  Uli
Esma Oniani Esma Oniani_2014-06-24 17.22.18Esma Oniani, geboren am 20. Juni 1938 in Tbilissi (Tiflis)/Georgien. Beendete 1956 die 23. Mädchen-Mittelschule von Tbilissi mit einer Goldmedaille, studierte von 1957 bis 1963 an der Fakultät für Malerei der Tbilissier Kunstakademie. Ab 1962 nahm sie systematisch an verschiedenen georgischen und sowjetischen Ausstellungen teil, arbeitete beim Georgischen Fernsehen, wurde 1967 freischaffende Malerin und Lehrerin an der Tbilissier Staatlichen Kunstakademie, Fakultät für Malerei. Mitglied des Künstlerverbandes der UdSSR. 1987 wurden ihre Arbeiten in Japan ausgestellt und prämiert. 1988 weilte sie in zu einem Arbeitsaufenthalt in Lettland. Ab 1966 wurden verschiedene Gedichte und Artikel in georgischen Zeit-schriften und Zeitungen abgedruckt. 1978 erschien der erste Lyrikband „Gedichte“, es folgten noch drei Lyrikbände: „Leise fliegen die Vögel herum“ 1982, „Die weißen Gäste“ 1986, „Was lässt mich nicht vergessen“ 1988. Sie schrieb Lyrik für Kinder und übersetzte russische Autoren. Am 31. Januar 1999 starb sie unerwartet. Ihre Schwester Irine Oniani gab im Jahre 2000 ein Buch mit Gedichten, Essays und Artikeln heraus. Postum wurde ihr im Jahre 2000 die Staatliche Prämie Georgiens verliehen. Lieferbare Titel von Esma Oniani: „Nichts heißt keine Farbe“. Gedichte & Gedanken über die Poesie. Übersetzung aus dem Georgischen von Steffi Chotiwari-Jünger und Artschil Chotiwari nach einer Auswahl von Dato Barbakadse. Kaukasische Bibliothek, Band 4.Hrsg. Uli Rothfuss.102 Seiten, ISBN 978-3-86356-087-4, €[D]15,50 MATRIX 4/2014 (28) Esma Oniani: Ich bin mächtig, ich bin nichts …Eines allerdings sollte dem Literaturbetrieb niemand ankreiden: dass man sich nicht ausreichend mit Georgiens literarischer Landschaft auseinandergesetzt habe. Als einen ersten Tropfen auf den heißen Stein sehen wir daher den Versuch, eine Grande Dame der georgischen Literatur und Kunst vorzustellen: Esma Oniani. Jörg Alexander Henle erinnert sich an seine erste Begegnung mit deren bildkünstlerischem Werk: Ein Feuerwerk in Rot empfing den Besucher, der von der Straße in die Gemäldegalerie eintrat. (…) Die Bilder von Esma Oniani waren Flammen, die Wasser nicht löschen konnte. Was sie ausstrahlten, war Kraft. Kraft und Zärtlichkeit. 60 Jahre alt war die Künstlerin, die 1999 starb. Wir denken an „Blau“, wenn wir den Namen Yves Klein hören. Von nun an werde ich an Esma Oniani denken, wenn ich „Rot“ höre. Wir laden Sie ein, die georgische Schriftstellerin und Malerin kennenzulernen: mit Gedichten, Gedanken über die Poesie, Zeichnungen und Bildern ab Seite 7.ISSN: 1861-8006, 214 Seiten, €[D]11,00 (• Esma Oniani • Dominik Irtenkauf • Jörg A. Henle • Ștefan Aug. Doinaș • Theo Breuer • Rainer Maria Gassen • Sabine Bentler • Uli Rothfuss • Mark Behrens • Elke Engelhardt • Rewas Twaradse • Edith Ottschofski • Ulrich Bergmann • Willi van Hengel • Rainer Wedler • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Wolfgang Schlott • Alex Judea • Christian Knieps • Traian Pop • Klaus Martens • Barbara Zeizinger •) „Ich aber will dem Kaukasos zu…“ Eine Anthologie georgischer Lyrik. Nach einer Auswahl von Nino Popiaschwili. Buch mit Audio-CD. (• Irakli Abaschidse • Diana Anfimiadi • Dawit Aghmaschenebeli • Giwi Alchasischwili • Rati Amaglobeli • Lado Assatiani • Eka Bakradse • Schalwa Bakuradse • Nikolos Barataschwili • Zira Barbakadse • Dato Barbakadse • Bessik Charanauli • Dawit Dephy •Kato Dschawachischwili • Gabriel Dschabuschanuri • Wachtang Dschawachadse • Nika Dschordschaneli • Rapiel Eristawi • Bessarion Gabaschwili • Konstatine Gamsachurdia • Walerian Gaprindaschwili • Giwi Gegetschkori • Naira Gelaschwili • Mirsa Gelowani • Reso Getiaschwili • Terenti Graneli • Niko Gomelauri • Dawit Guramischwili • Paolo Iaschwili • Schota Iataschwili • Irakli Kakabadse • Anna Kalandadse • Karlo Katscharawa • Giorgi Kekelidse • Eka Kewanischwili • Zira Kuraschwili Murman Lebanidse • Giorgi Leonidse • Lia Likokeli • Giorgi Lobschanidse • Dato Magradse • Muchran Matschawariani • Kolau Nadiradse • Gaga Nachuzrischwili • Schota Nischnianidse • Iosseb Noneschwili • Guram Odischaria • Esma Oniani • Grigol Orbeliani • Isa Ordschonikidse • Moris Pozchischwili • Wascha-Pschawela • Swiad Ratiani • Grigol Robakidse • Surab Rtweliaschwili • Schota Rustaweli • Nino Sadgobelaschwili • Niko Samadaschwili • Lela Samniaschwili • Paata Schamugia • Irma Schiolaschwili • Ioane Sossime • Lia Sturua • Galaktion Tabidse • Tizian Tabidse • Ilia Tschachruchadse • Schota Tschantladse • Tariel Tschanturia •Dschanssugh Tscharkwiani • Irakli Tscharkwiani • Aleksandre Tschawtschawadse • Ilia Tschawtschawadse • Bela Tschekurischwili • Otar Tschelidse • Simon Tschikowani • Alex Tschigwinadse • Otar Tschiladse • Tamas Tschiladse • Keti Tutberidse • Volksdichtung • Akaki Zereteli •) Übersetzung: Steffi Chotiwari-Jünger, Naira Gelaschwili, Maja Lisowski, Nino Popiaschwili, Schorena Schamanadse, Tamara Sieger.Nachdichtung: Nino Popiaschwili, Gert Robert Grünert. Kaukasische Bibliothek, Band 9. 578 Seiten, ISBN 978-3-86356-124-6, €[D]35,50.
Aktualisiert: 2023-05-30
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Abasinische Prosa. Folklore, Erzählungen, Novellen und Miniaturen.

Abasinische Prosa. Folklore, Erzählungen, Novellen und Miniaturen. von Adshibekow,  Chadshisamail, Apsowa,  Fatimat, Chotiwari-Jünger ,  Steffi, Dagushiew,  Muchadin, Dshegutanow,  Kali, Dsugow,  Pawel, Fisikow,  Schachimbi, Kischmachow,  Medshid, Kopsergenowa,  Walentina, Rothfuss,  Uli, Tchajzuchow,  Bemursa, Tschekalow,  Pjotr, Tschikatujew,  Michail
Vor Ihnen liegen Märchen, Erzählungen, Novellen und Miniaturen der Abasiner (nicht zu verwechseln mit den Abessiniern!), einem kleine Volk, das im Norden des Kaukasus lebt und weniger Sprechende besitzt als unsere slawischen Sorben in Deutschland. Das Buch beginnt mit einem Märchen, es folgen zwölf Autoren, darunter drei Autorinnen. Der älteste Autor ist Jahrgang 1925 und der jüngste Jahrgang 1958. Acht von ihnen sind noch am Leben und schreiben weiterhin Literatur. Einige der abasinischen Schriftsteller äußern sich nur Abasinisch, andere Abasinisch und Russisch. Es ist offensichtlich, dass die abasinische Prosa zum Teil noch stark von der Folklore beeinflusst ist, es werden sogar Sagen neu bearbeitet oder völlig neue erschaffen. Die hier angebotenen abasinischen Werke umfassen eine enorme Spannbreite: mal sind sie sentimental und belehrend, dann wieder naturverbunden, lyrisch, ironisch, satirisch, tragisch oder/und heiter. Einmal begeistert eine Liebensgeschichte, dann wieder eine Anekdote…, mal erinnert eine Geschichte an Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh…“, dann scheint der Protagonist Matuta Adamowitsch dem russischen Protagonisten Akaki Akakijewitsch aus Gogols „Der Mantel“ nachzueifern. Bisher sind ca. 33 Bücher aus dem Abasinischen ins Russische übersetzt worden, davon stellt die überwiegende Anzahl (ca. 20) Lyrik dar. Romane bzw. Erzählungen erschienen lediglich in fünf Büchern. In eine andere Sprache als das Russische sind die Werke bisher nicht übertragen worden, sodass der vorliegende Band durchaus eine Einmaligkeit darstellt.
Aktualisiert: 2023-05-30
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NACH ALPHABET GESAMMELT

NACH ALPHABET GESAMMELT von Rothfuss,  Uli, Ueckert,  Charlotte
Charlotte Ueckerts sensiblen, deutlich akzentuierten, sprachlich ausgewogen wie auch differenziert hingestellte Gedichte erlauben diese Annäherungen, ohne Vorbehalt, ohne sich in Sprachkünsteleien zu verstecken. Sie sind offen für jeden, zu- gänglich, oft in sehr schlichter, eingängiger Sprache, und das ist das Schwerste, so schreiben zu können: mit Tiefgang und schlicht; sie kann das. So können Gedichte, so kann das Gedichte lesen ein wahres Geistesabenteuer werden. Im Februar 2019, Uli Rothfuss
Aktualisiert: 2023-05-30
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Tannenmörder

Tannenmörder von Fleiss,  Dorothea, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Calw. "Seit einige Monaten traute sich niemand mehr in den Wald." So beginnt die Kriminalgeschichte "Tannenmörder" von Uli Rothfuss, in der der Ich-Erzähler und ein alter Förster versuchen, einem Täter auf die Schliche zu kommen, der im Schwarzwald mit der Motorsäge Bäume fällt. Eine Krimi-Erzählung im klassischen Sinn ist "Tannenmörder" nicht: Die Bäume dienen als Symbol für vergängliches Leben und Natur, atmosphärische und kulturgeschichtliche Motive verdeutlichen die Mystik des Werkes. Hier geht es nicht darum, einen Täter zu schnappen, sondern viel mehr um das Leben der Menschen im Schwarzwald, ihre Hintergründe und Gedankengänge sowie um die Wirkung sowie Rückwirkung zwischen dem Menschen, beziehungsweise seinem Lebensraum. Autor Uli Rothfuss, der Professor für Kulturwissenschaften und Leiter der IB-Hochschule Berlin ist, hat seine Wurzeln in der Region Nordschwarzwald. "Ich wurde in Ebershardt bei Nagold geboren und habe meine gesammelten Eindrücke über den Schwarzwald in das Buch einfließen lassen. Beim Schreiben der Erzählung habe ich an die Umgebung Calws gedacht", erzählt er. Mit der Geschichte will er dem Leser nicht nur die Idylle der lokalen Landschaft näherbringen, sondern auch das düstere und bisweilen beengende Gefühl, das der Wald in Menschen auslösen kann. Rothfuss untersucht die psychologische Bindung des Individuums an seine landschaftliche Umgebung und die daraus entstehende Mentalität. Als Inspiration diente hierbei seine Auseinandersetzung mit Menschenrechten als Mitglied des "Institut International des Droits de l’Homme" in Straßburg, aber auch seine alltägliche Arbeit an der Hochschule. "Wir arbeiten gerade mit Studenten an einem wissenschaftlichen Projekt zur Raumpoetik. Ziel ist, herauszufinden, wie man Orte schaffen kann, an denen die Leute sich wohlfühlen und die eine positive Wirkung auf sie haben. So habe ich mich auch mit der mentalen Beeinflussung des Menschen durch den Schwarzwald befasst", erklärt der Autor, der seit seinem 25. Lebensjahr verschiedenste literarische Werke veröffentlicht hat. Illustriert wurde "Tannenmörder" von der Kunstprofessorin Dorthea Fleiß, die die dunkle und neblige Atmosphäre des Werkes perfekt in Szene setzt.
Aktualisiert: 2023-05-30
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trinken dich. und worte neu erfinden.

trinken dich. und worte neu erfinden. von Cumart,  Nevfel, Rothfuss,  Uli, Şimşek,  Tuğba
„Meeresvögel fliegen auf“ Liebesgedichte aus zehn Jahren von Uli Rothfuss Gedichte zu schreiben, ist wahrlich eine Kunst. Das ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Ebensowenig ist es ein Geheimnis, dass es sich dabei leider um eine „brotlose Kunst“ handelt. Zumindest heutzutage und hierzulande, auch wenn wir auf eine lange deutschsprachige Lyriktradition zurückblicken können. Denn die Publikumsverlage machen einen großen Bogen um diese schöne Literaturgattung. Kein Wunder, könnte man sagen. Wer liest denn noch heutzutage Gedichte? Und wer kauft sie, die schönen Gedichtbände? Wenige Menschen. Also verlegen die großen Publikumsverlage keine Gedichte, sondern verlegen sich auf den literarischen Mainstream, den Zeitgeist und die Trends, die dann von einem Verlag auf den anderen übergreifen. Wer so wie ich als Literaturkritiker die Verlagsprogramme und Kataloge der letzten zwanzig Jahre im Geiste Revue passieren lässt, weiß, was ich meine: Einige Jahre lang wird mit Wölfen und anderen Tieren getanzt, dann mit Pferden oder dem Wind geflüstert. Einige Jahre lang dominieren Zauberlehrlinge die Szene und den Buchmarkt, um dann von Vampiren abgelöst zu werden und so weiter und so fort. Natürlich nicht zu vergessen die Fantasy-Serien, die von vornherein als Tri- oder gar Tetralogien konzipiert werden, oder aber die Regionalkrimis, die wie Pilze aus dem Boden schießen, und zumeist nicht das einlösen, was wir unter guter Literatur verstehen. Wenn also jemand heutzutage Gedichte schreibt und auch einen engagierten Verlag findet, der diese veröffentlicht, dann geschieht das sicher nicht aus finanziellem Kalkül. Weder beim Verlag noch beim Autor. Andere Gründe, literarische, ästhetische und vielleicht auch kulturvermittelnde Gründe könnten da eher eine Rolle spielen. Und mit den Stichworten Literatur, Ästhetik und Literaturvermittlung wären wir bei dem Verfasser der Gedichte, die in dieser Sammlung vorliegen: Uli Rothfuss. Uli Rothfuss ist – man würde im Volksmund sagen – eine „schillernde Figur“ im positiven Sinne. Oder anders gesagt: Er ist ein Multitalent. Denn er hat, was die Literatur und die Lehrtätigkeit, was die Ästhetik und die Kulturvermittlung betrifft, bisher eine sehr bewegte, abwechslungsreiche und überaus beeindruckende Laufbahn hinter sich. Wer sich mit seinem akademischen und publizistischen Lebenslauf, mit seinen Studien und Abschlüssen, mit seinen Forschungsprojekten und Lehrtätigkeiten in Deutschland und im Ausland und auch mit seinem literarischen Werk etwas ausführlicher beschäftigt, wird voller Bewunderung feststellen, zu welchen Leistungen ein engagierter Mensch mit unheimlicher Schaffenskraft fähig ist. Hier soll der Kürze wegen lediglich erwähnt werden, dass der Professor für Sozial- und Kulturwissenschaften neben anderen Abschlüssen auch mit zwei Ehrendoktortiteln aufwarten kann. Darüber hinaus auch mit diversen Stipendien, Auszeichnungen und Ehrenmedaillen unter anderem in Frankreich, Großbritannien, Polen und Aserbaidschan. Uli Rothfuss engagiert sich auch in zahlreichen akademischen, sozialen und literarischen Projekten, Organisationen und Gremien, deren Aufzählung den Rahmen dieses kurzen Vorworts bei weitem sprengen würde. Auf dem weiten Feld der Literatur soll an dieser Stelle nur aufgeführt werden, dass er Mitglied des VS (Verband deutscher Schriftsteller), des PEN-Zentrums Deutschland ist und sich seit vielen Jahren als Präsident der Europäischen Autorenvereinigung „Die Kogge“ engagiert, deren Werdegang er, auch angesichts von massiven Kürzungen der öffentlichen Hand für literarische Gesellschaften, maßgeblich beeinflusst hat. Seit einigen Jahren nun leitet Uli Rothfuss das Hochschulprogramm und die Akademie Faber-Castell für Kunst, Design und Literatur in Stein bei Nürnberg. Eine anspruchsvolle und auch kreative Tätigkeit, für die nicht umsonst viel Zeit und Energie vonnöten ist. Aber er schreibt weiterhin. Das geht natürlich nur mit Disziplin, Fleiß und literarischer Arbeit. Nicht umsonst schreibt der italienische Schriftsteller Umberto Eco in seiner Nachschrift zum Roman „Der Name der Rose“ über den erzählerischen Arbeitsprozess, dass das Genie zu zehn Prozent aus Inspiration und zu neunzig Prozent aus Transpiration bestehe. Prägnanter lässt sich sicher nicht ausdrücken, dass Schreiben auch Handwerk ist. Dieses Handwerk beherrscht Uli Rothfuss ohne Zweifel. Und – damit sind wir schon wieder beim Ausdruck „Multitalent“ - er beherrscht es über alle Gattungen und Genres hinweg. Sein bisheriges imposantes Werk umfasst über zwei Dutzend eigenständige Publikationen. Romane für Jugendliche und Erwachsenen sind darunter ebenso zu finden wie Lyrik, Erzählungen, Essays und Krimis, aber auch Theaterstücke und Reiseführer. Dabei bleibt als literarisches „Sahnehäubchen“ noch festzuhalten, dass Bücher von ihm in andere Sprachen übersetzt worden sind. Für einen Schriftsteller sicherlich eine Auszeichnung und Anerkennung der besonderen Art, was die Rezeption des eigenen Werkes betrifft. Dieser Band enthält keine herkömmlichen Gedichte, sondern Liebesgedichte aus zehn Jahren. Das ist bemerkenswert, sind doch Liebesgedichte eine zum Teil sehr persönliche, zum Teil sehr mutige Weise, sich lyrisch auszudrücken, insbesondere in dieser schnellebigen Zeit, in der viele Menschen ihr Augenmerk eher auf ihre Smartphones richten denn auf Literatur. Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Gedichte bereits bei der ersten Lektüre verständlich und auch zugänglich sind. Im Gegensatz zu anderen modernen Dichtern, die sich gelegentlich gerne hinter verschlüsselten, hermetisch abgeriegelten Bildern und Sprachkonstruktionen „verstecken“, benutzt Uli Rothfuss bewusst eine einfache gleichwohl poetische Sprache. Die hier versammelten Gedichte zeichnen sich allesamt durch eine ruhige, unprätentiöse und ungekünstelte Sprache aus, sie sind unverkrampft, auch wenn sie gelegentlich Melancholie, Sehnsucht und auch emotionalen Schmerz in sich tragen, und sie sind lebendig, ohne deshalb lyrische Qualität einzubüßen. Es kann und sollte auch nicht die Aufgabe sein, in einem Vorwort die Gedichte für die Leserschaft „aufzubereiten“ oder sie gar zu interpretieren. Das wäre zu schade. Denn ein Gedicht wird einmal geschrieben, aber mehrfach gelesen und gedeutet. Die sprachlichen Bilder, die ausdrucksstarken Symbole und Metaphern, von denen es in dieser Sammlung viele gibt, sprechen womöglich jeden einzelnen Leser oder jede einzelne Leserin auf unterschiedliche Weise an. Und das ist auch gut so. Aber so viel darf trotz dieser Prämisse zum Abschluss dieses kurzen Vorworts gesagt werden dürfen: Wer sich die Texte in diesem Band liest, wird recht bald ein Gefühl dafür bekommen, dass diese Gedichte Verstand und Gefühl gleichermaßen ansprechen. Uli Rothfuss schafft es, seine Leser zu berühren, ohne ästhetisches Empfinden zu verletzen. Er kann mit Hilfe sprachlicher Bilder Gefühl zeigen, ohne trivial zu sein. Das ist heutzutage wahrlich Teil der Kunst, von der im Auftakt dieses Vorworts die Rede gewesen ist! Nevfel Cumart Bamberg, Juli 2017
Aktualisiert: 2023-05-30
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Man spricht nicht über den Tod

Man spricht nicht über den Tod von Alexidse,  Mika, Lisowski,  Maja, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Nana Trapaidse Die Stimmen und die Leere „Womöglich ist auch der Tod bloß eine Art der Schönheit oder die Schönheit ist die Gabe eines Gemarterten, die Gabe, mit dem Tod allein zu bleiben.“ Mika Alexidse „Man spricht nicht über den Tod“ Die Sammlung der Erzählungen von Mika Alexidse wurde zum ersten Mal 1985 herausgegeben. Eine weitere folgte 1985. In den georgischen Druckmedien wurden sowohl seine Erzählungen als auch seine Gedichte regelmäßig veröffentlicht. Auch wenn Mika Alexidse zu seiner Zeit kein unbeschriebenes Blatt war, erregte seine psychologische Prosa sowohl die Gemüter der damaligen Leser als auch die seiner Kollegen. Dennoch wurde er von den georgischen Literaturkritikern der Vergessenheit ausgeliefert. Auch solche Paradoxe sind Teil georgischer Literaturgeschichte. Und so entstand bei mir beim Lesen dieser Erzählungen das Gefühl der Überraschung, so ähnlich, wie man vor etwas Großem und Unerwartetem steht: Wie ist das denn nur möglich? Ich las in der Vollkommenheit der Erzählungen Mika Alexidses die schönen und weniger schönen Geheimnisse der menschlichen Seele. Neben diesen Geheimnissen und der Schönheit der Seele auch jene Ungerechtigkeiten, in die das Schicksal der Erzählungen und auch ihres Autors verwickelt wurden. Leider blicken wir heute auf ein fünfundzwanzigjähriges Schweigen zurück, auf das Vergessenwerden, das diese seltenen Werke aus der Literaturwelt entfernt hatte. Mika Alexidses Erzählungen wurden in den 1980er-Jahren geschrieben. Das war die Zeit der historischen Bewegungen: Die Sowjetunion „veränderte sich“, nationale Bewegungen und die Zeit des gesellschaftlichen Bebens kamen auf. Damals wurden die Menschenmassen von globalen Denkströmungen so angetrieben, als würden sie in deren Willen agieren. Gerade große Ereignisse machen aus einem Menschen eine Marionette, nur so zum Vergnügen. Je stärker die Strömung und je breiter das Flussbett ist, desto größer ist die Illusion der Freiheit. Die heftigen gesellschaftlichen Aufregungen der 80er- und 90er-Jahre waren das schwere Los derer, die in diese Strömung der Zeit geraten waren, mit der gesellschaftlicher Psychose und den tragischen Folgen der Bürgerkriege. Als hätte gerade hier, in dieser nationalen Hölle das Epizentrum des menschlichen Daseins gelegen, aber hinter dem lärmenden Vorhang der Zeit zeigt der Negativ-Film der Geschichte ein anderes Bild und zwar davon, dass die wahre Wahrheit hinter den Schritten der Zeit läuft, und für diese Wahrheit gibt es keine größere Sünde und Feigheit als die blinde Kraft, mit der sich die Menschen vor verbotener Reinheit des Erwachsenseins und der Fülle schützen. In Mika Alexidses Erzählungen werden keine Geschichten erzählt. Sie werden nicht deswegen nicht erzählt, weil der Literatur der Erzählstoff ausgegangen sei, sondern hier werden die Erzählungen anders behandelt: Die Menschen in der Erzählung haben keine Geschichten. Sie selbst sind die Geschichte. Diese Erzählungen sind das Ritual jeder ihrer Bewegungen, ihrer Gestik und ihrer graziösen Traurigkeit. Sie werden im literarischen Gedächtnis der Sprache eingefangen und unsterblich gemacht. Es ist sehr schwer, das Genre dieser traurigen Erzählungen zu definieren. Hier gibt es keine Flucht oder psychologische Kämpfe. Viel mehr sind es Geschichten des Gehorsams gegenüber der Freiheit. Sie sind wie eine riesige Meuterei wegen der Missverständnisse, die manchmal im Schicksal der Menschen auftauchen und zum Kampf gegen die intakte Lage der Gerechtigkeit, Schönheit und Güte auffordern. Hier beginnt die dramatische Geschichte des Ungehorsams gegenüber der Freiheit: In der Gefängniszelle der Zeit bleibt die Liebe stets außerhalb. Das zwingt uns dazu, nicht zu kämpfen, sondern den inneren Gesetzen der Freiheit zu gehorchen, die vom Glauben begleitet werden, dass die Zeit eh von allein vorüber gehen wird, die Zeit eh den Raum verlassen wird, in den sie nicht reingehört. Die Erzählungen sind dennoch weder optimistisch noch pessimistisch. So einen Fokus der Anschauung besitzen sie nicht. Sie besitzen ihre eigene Anschauung und wenn sie irgendwohin schauen, dann wiederum in ihre eigenen Augen, aus denen die Protagonisten stets auf ihre ewige Kindheit zurückblicken. Die Wahrheit, in der die Blicke verwandter Seelen aufeinander treffen und einander erkennen, ist derart zart und hüllenlos, dass sie in der schizophrenen Agonie der nervlichen Anspannung diesen nicht existierenden Körper dennoch erschüttern kann. Ein Krieg zwischen der großen Liebe und der großen Angst bricht aus. In dem aber trotzdem der Mensch gewinnt. Das bedeutet, hier gewinnt seine Einsamkeit, diese unvollkommene Frucht der Glückseligkeit, die uns daran erinnert, dass die Liebe die Heirat des Todes und des Lebens bedeutet, dass für sie andere Eltern nur ein Surrogat sein kann. Die Erzählungen Mika Alexidses tragen etwas Unerwartetes in sich: Zwar folgen die Sujets den dramatischen Linien der Seele und des Schicksals von Protagonisten, die immanente Empfindung der Texte ist aber dennoch episch. Diese ganzen seelischen Risse und Erschütterungen, diese ganze Wahrheit über die Einheit der Welt, werden von der Erfahrung ihrer Größe und ihrer Großartigkeit gesehen. Diese ungewöhnliche Synthese zwischen der seelischen Dramaturgie und der epischen Sicht ist ein Teil der Dynamik der Syntax. Wie ein musikalisches Thema, das sich zu seinem Kontrapunkt hinarbeitet. Wenn wir der Psychologie literarischer Empfindungen folgen, so wird die wahre Literatur nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Form dargestellt. Das, was der förmliche Optimismus ist, ist schon der Glaube, und was der Inhalt ist, ist lediglich die Hoffnung. Mika Alexides Erzählungen versprechen nicht die Hoffnung, sie hoffen einfach. Deshalb ist ihre literarische Sprache darstellerisch und schauspielerisch. Sie stellen eine Art Feier der Performance dar, in der die sprachliche Handlung und die literarische Stimme sich der tiefsten und zartesten Kräfte der inneren Bewegungen, der Energie und des Gemüts bedienen. In der Komposition dieser Erzählungen sind das Erzählen und der Stoff unzertrennlich. In der thematischen Empfindung überdecken sie sich gänzlich. Beispielsweise in der Erzählung „Babuschi“ wird die Welt aus den Augen eines Zwölfjährigen gezeigt, die den Stempel des abgebrannten Hauses, des Halbwaisen und des Gefängnisses trägt. Babuschi wollte von dem abgebrannten Haus berichten, wollte jede Einzelheit erzählen, die er gesehen hatte. Im Moment konnte er sich gar nicht vorstellen, dass seine Erzählung nach einer ganz kurzen Zeit völlig an Bedeutung verlor. Das Leben, das vom Gewehrlauf abhing, zog sich in die Länge und ließ ihre Stimmen und Körper so flattern wie einen Zeitungsfetzen der Wind. Man hätte jedem von ihnen einen Namen geben können, unter anderem auch Freiheit. Deshalb wurde dieses Wort von keinem mehr erwähnt und wurde somit auch nicht mehr zum Gesprächsthema. Die Quelle ihres tiefen Bedauerns lag im verkohlten Haus von Babuschis Nachbarn und er glaubte, sie hätten unendlich darüber sprechen können. Hier aber bekam er zu hören: „Wer braucht schon ein Haus?“ und spürte, wie der Rauch, trüb und zerfetzt, mit dem Wind zusammen aufstieg und sich sehr weit mit dem Nebel mischte ... („Babuschi“) Georgien ist ein Land des Meeres und der Berge. Die westliche Grenze verläuft entlang des Schwarzen Meeres, im Norden ist das der Kaukasus, wo einst die Götter den mythischen Amiran (den griechischen Prometheus) angekettet haben sollen. Daher erscheint es mehr als selbstverständlich, dass sich die symbolische Denkweise hier durch das Meer und die Berge auf natürlichem Wege äußert. In der Literatur sind das Meer und die Berge überwiegend geografische Teile (aber keine zufälligen). Ihre konzeptuelle Verwandlung, wie es in Thomas Manns „Der Zauberberg“, Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ oder Melvilles „Moby Dick“ geschieht, ist selten in der georgischen Literatur. Hier ist die Tradition der Berge weitaus häufiger als die des Meeres. Natürlich gibt es das Meer in Galaktion Tabidses Gedichten und in Otar Tschiladses Prosa. Die Leere dieses Kontexts wird von Mika Alexidses Erzählung „Man spricht nicht über den Tod“ gefüllt, die vollkommen durch die Thematik des Meeres inspiriert worden war, genauer gesagt, durch die Mystik des Meeres und die Poesie. In Mika Alexidses Erzählungen wird die ganze Welt als ein Teil der emotionalen Empfindungen dargestellt. In diesen Empfindungen wird sie geboren und lebt weiter. Deshalb sind objektive Gegenstände, das seelische Drama und die literarische Lyrik in ihrer natürlichen Ganzheit eine ontologische Gegebenheit. Anders kann es nicht kommen. Daher wird zum Beispiel nicht zwischen der Frau und dem Meer unterschieden, als zwei Ähnlichkeiten, die sehr wertvoll sind, und in dieser Ähnlichkeit das unausweichliche Dilemma des Zweikampfes und der gegenseitigen Unterwerfung zwischen der Liebe und der Freiheit darstellen. In der poetischen Welt der Erzählungen von Mika Alexidse ist auch die Empfindung der Natur äußerst tief und neuartig. In dieser Hinsicht ist die ganze georgische Literatur sehr reich. Wir könnten sagen, dass mit dem Thema der Natur die georgische Literatur nicht nur die Erfahrungen anderer Literaturen durchgemacht, sondern auch ihre eigenen, vollkommen einzigartigen literarischen Realien geschaffen hat, die noch heute an ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben. Sowohl die Berge, als auch das Flachland, hoch sowie niedrig, bekannt und unbekannt stehen im postkolonialen Kontext ... Neben dieser konzeptuellen Dichotomie gibt es auch einen Dialog des Menschen mit der Natur und die lyrische Tradition seiner anthroposophischen Sichtweise. Ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Tradition sind auch die Erzählungen von Mika Alexidse. Wenn die Literatur neben all dem auch die Welt der Gedanken, Emotionen, unerwarteter Bund der Wörter und unerwartete Lage der Gegenstände ist, dann ist Mika Alexidse ein wahrer Künstler dieses Unerwarteten. In den seelischen Erfahrungen dieser unerwarteten Bündnisse liegt ihre Kraft, die den Abgrund der Welt berühren und ihr Geheimnis lüften konnte. Anders vermag es keiner, die Erotik und die entgegengesetzten Positionen der Zeit und der Leere auf so eine künstlerische Weise darzustellen, wo „Liebe“, „Geschichte“ und „Nichts“ durch ihre zusammenhängende Natur eine ambivalente Dichotomie zwischen dem Leben und dem Tod darstellt und mit einem scharfen Blick einen Bogen bis zu den Pathologien des menschlichen Schicksals spannen kann. Zum Beispiel die Politik als Pathologie, wo die gesunde Sicht von der Weltordnung getrübt wird. Hier, in diesem literarischen Zwischenkontext werden die Freude des Menschen über die Ganzheit der Welt und die Schönheit der Natur und seine schmerzhafte Trauer der leeren Realität, die gerade Kopf steht, herausgelesen. Was ist denn die Literatur, wenn nicht die Illusion der Tilgung der Grenze zur Realität. Genau gesagt, die Übersetzung der Wahrheit, die nicht verpflichtet ist, das triviale Bild der Welt direkt zu wiederholen. Deshalb ist es die Aufgabe auch der „Übersetzung“, mehr zu sein als das „Original“. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte dieser Pflichtkunst. In der Erzählung Mika Alexidses „ Das Festmahl des Schweigens“ ist das Schreiben ein Teil des Lebens, das selbst schon ein literarischer Akt ist. Hier ist das Schreiben weder eine Zusammenfassung noch eine Fortsetzung einer Geschichte. Sie ist vollkommen in die Gesetze des Lebens involviert: „Ich habe den Himmel schon lange nicht mehr so ruhig angeschaut. Sah ich früher hoch, so trübte er sich, brauste vor meinen Augen auf, bedeckte mich, ließ mich den Kopf verbeugen, ließ mich einem armen Stier ähnlich aussehen. Dann nahm er mich in die Finsternis mit. Dann war ich nur noch eine Handvoll dunkler Fleck. Er warf mich so erbarmungslos auf die Erde, dass ich nicht einmal aufschreien konnte. Auch ein Stier bekommt keine Gelegenheit für eine Beichte ... In dem bleifarbenen Himmel sah ich nicht die Poesie, sondern einen kleinen Fleck, der sogleich auf die Erde stürzen würde ... So begann in meiner Jugend eine harmlose Erzählung, für die ich später keine passende Überschrift finden konnte und sie dann irgendwie „Christusaugen“ nannte. Das war eine besonders kindische, naive Erzählung über einen einfachen Menschen, der nicht nur keine eigene Sünde, sondern keine eigene Hure hatte, nicht einmal für eine Nacht. Aber dennoch hörte er völlig unerwartet in der Abenddämmerung auf der Straße: „Du ähnelst Nichts mehr, mein Kind“ („Das Festmahl des Schweigens“). Danach lesen wir die schönste Poesie: Wie die Nicht-Existenz die Ephemere der Existenz hervorruft, der Tod den Mythos des Lebens, und dass letztendlich das Leben in seiner weisen Unvollkommenheit die zarten Furchen der Glückseligkeit in den Schmerz und in die Nicht-Existenz zieht. Die komplizierte Angelegenheit der Liebe, die wir in dieser Geschichte antreffen, ist das Erkennen des weltlichen Lichts von ihrer dunklen Seite her. Hier wird die ganze Welt auf den Kopf gestellt, alles bis ins kleinste Detail zerlegt, damit sie Kleinigkeit ihres Wesens jede Kleinigkeit ihrer Empfindungen übernimmt. Wie soll Musik erzählt werden? Genauso schwer ist es, die Erzählungen Mika Alexidses nachzuerzählen. Diese sollten unmittelbar erlebt werden. Und dennoch! Wovon möchten uns diese Erzählungen berichten? Wahrscheinlich davon, wie die Welt atmet, oder davon, dass die Poesie eine Arterie des Lebens darstellt, durch die das Weltleben fließt und die sinnlose Fülle des Lebens an der Seite liegen lässt. Die es vermag, trotzig und mit angehaltenem Atem weiterzufließen, damit sie irgendwo, irgendwie, in einem ganz persönlichen Schicksal der Menschen das Ewige und das Zeitweilige aufeinander treffen und sich einen lässt ...
Aktualisiert: 2023-05-30
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Ich bin viele

Ich bin viele von Akobidze,  Nana, Dschawachischwili,  Kato, Gotschiaschwili,  Ela, Kaischauri,  Rusudan, Kewanischwili,  Eka, Likokeli,  Lia, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli, Sadghobelaschwili,  Nino, Samniaschwili,  Lela, Schiolaschwili,  Irma, Shiolashvili,  Irma, Tandaschwili,  Manana, Topuria,  Tea, Ziklauri,  Mariam, Zuzkiridze,  Lela
•Nana Akobidze / ნანა აკობიძე • Kato Dschawachischwili / კატო ჯავახიშვილი • Ela Gotschiaschwili / ელა გოჩიაშვილი • Rusudan Kaischauri / რუსუდან კაიშაური • Eka Kewanischwili / ეკა ქევანიშვილი • Lia Likokeli / ლია ლიქოკელი • Nino Sadghobelaschwili / ნინო სადღობელაშვილი • Lela Samniaschwili / ლელა სამნიაშვილი • Irma Schiolaschwili / ირმა შიოლაშვილი • Tea Topuria / თეა თოფურია • Mariam Ziklauri / მარიამ წიკლაური • Lela Zuzkiridze / ლელა ცუცქირიძე • Frauenspezifische Sujets wie Unterdrückung und Ausbruch der Frau, Mutter, Tochter und Schwester, Geburt, Kinderkriegen und Familie werden auf oft originelle Weise thematisiert. Es ist wohl schon so, dass diese Dichterinnen das Genderthema deshalb so oft und intensiv aufgreifen, weil in ihrem Land noch viel weniger als hierzulande eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau herrscht. Umso erstaunlicher ist es, wie offenherzig und schonungslos da gedichtet wird, das eigene Ich wird manchmal nackt ausgestellt und ein Blatt selten vor den Mund genommen, insbesondere wenn es um Sexualität und Männer geht. Auch die Geschichte wird nicht ausgespart, die kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten drei Jahrzehnte, die diese Dichterinnen-, Töchter-, Schwester- und Witwengeneration besonders geprägt haben und die Verwurzelung in der klassischen historischen georgischen Literatur werden manchmal in erzählerischer Form, oft auch sprachlich experimentell und auf immer hohem poetischen Niveau ... Sabine Schiffner
Aktualisiert: 2023-05-30
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Schwäne im Schnee

Schwäne im Schnee von Britze,  Joachim;Schiolaschwili,  Irma, Mossulischwili,  Micho, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Nachwort Micho Mossulischwili wurde am 10. Dezember 1962 im Dorf Araschenda in der ostgeorgischen Provinz Kachetien geboren. Über seine Kindheit, die seine Persönlichkeit und damit auch sein literarisches Schaffen geprägt hat, teilt er mit: „Ist es eine kapitalistische Kindheit oder eine so- wjetische Kindheit? Es ist eine Kindheit und damit Schluss! Ein Kind interessiert sich nicht für das staatliche System oder die Ideologie. Meine Kindheit ist mit zwei Geschehnissen verbunden, aus denen man ersehen kann, warum ich Schriftsteller geworden bin (wenn ich wirklich einer bin). 1. Wenn in meiner Kindheit irgendeine Frau mit Kopftuch zu uns gekommen ist, forderte ich sofort, dass sie es abnehme. Tat sie es nicht, fing ich an zu weinen. Das setzte ich so lange fort, bis die erstaunten und völlig durcheinander gekommenen Frauen ihr Kopftuch abnahmen. Meine Mutter beruhigte sie immer wieder und erklärte ihnen, dass ich sogar sie von Anfang an mit Kopftuch nicht ertragen konnte und immer forderte, dass sie es abnehme. Später, als ich älter wurde, versteckte ich die Kopftücher meiner Mutter, damit sie sie nicht tragen könne. Wenn ich auch jetzt eine Frau mit Kopftuch sehe, wird mein Herz in negative Schwingungen versetzt und ich bin nahe daran, sie zu bitten, ihr Kopftuch abzunehmen und Haare und Gesicht zu zeigen, weil das der schönere Teil der Menschheit ist. Dieses kleine Detail, dass ich bei den Frauen das Kopftuch nicht ertragen konnte, weil es ihre Schönheit bedeckt, war – wie ich erst später begriffen habe, als ich groß geworden war – ein Anstoß dazu, mich so zu benehmen, dass ich den Frauen gefalle. Nach meiner damaligen Beobachtung schmeicheln die Männer den Frauen so, wie sie es nur können, um bei ihnen anzukommen, durch ihr Benehmen oder durch irgendwelche Aktionen. Dadurch habe ich angefangen, darüber nachzudenken, was ich machen könnte, um den Frauen zu gefallen. Blumen bringen? Natürlich! Aber ich habe auch entdeckt, dass ich Lebensereignisse gut beschreiben konnte. Ich konnte sogar solche Ereignisse erfinden und die Stimmen der Menschen in ihnen hören. Dass ich schreibe, soll man so verstehen, dass ich damit den Frauen als dem schöneren Teil der Menschheit gefallen möchte. Ich denke ständig, dass mir dies bis jetzt nicht völlig gelungen ist. Und deshalb versuche ich immer wieder, neue Sachen zu schreiben … 2. Seit meiner Kindheit begleitet mich noch eine andere außergewöhnliche Schönheit, die meine Seele immer nach oben brachte. Das war die Musik. Aber die Sache mit der Musik war komplizierter. Es gab eine Art von Musik, die ich nicht leiden konnte und vor der ich wegrannte. Ich schaltete entweder das Radio aus oder verließ das Zimmer, um sie nicht hören zu müssen. So sehr missfiel sie mir. Aber es gab auch die andere Art der Musik. Wenn meine Seele sie hörte, flog sie hoch und begann sich frei zu bewegen in irgendwelchen wunderschönen Gefilden, oder sie flog um seltsam stehende und seltsam sprechende Menschen herum. Das gefiel ihr sehr. Bevor ich anfing zu studieren und dabei Erzählungen zu schreiben, wusste ich nicht, warum ich einen so seltsamen Bezug zur Musik hatte. Als ich versuchte, meinen eigenen Prosastil zu finden, las ich viele Schriftsteller. Ich erlernte meinen Schreibstil von ihnen und schrieb sogar ganze Seiten bei ihnen ab, um zu verstehen, wie sie schrieben. Einige Schriftsteller standen mir nahe und von einigen wollte ich wegrennen. Hier passierte mir dasselbe wie mit der Musik, als ich klein war. Aber während ich damals nicht verstehen konnte, was mit mir los war, habe ich beim Studium der Schriftsteller folgendes verstanden: Mir steht Hermann Hesse nahe, und weit weg steht Thomas Mann. Mir steht Akutagawa nahe, und weit weg steht Kawabata. Mir steht Dostojewskij nahe, und weit weg steht Tolstoj. Mir steht Wascha Pschawela nahe, und weit weg steht Ilia Tschawtschawadze. Dabei bedeutet das überhaupt nicht, dass Thomas Mann, Kawabata, Tolstoj und Ilia Tschawtschawadze schlechte Schriftsteller seien. Sie stehen einfach weit weg von meiner inneren Natur. Später, als ich begriffen hatte, dass der Rhythmus eines jeden Werks von Musik beeinflusst ist, entdeckte ich, dass Hermann Hesses Schreibrhythmus durch Mozarts und Bachs Musik bedingt ist, und nicht beispielsweise durch Beethoven, Haydn oder Schumann. Der Rektor des Staatlichen Tifliser Konservatoriums, Professor Nodar Gabunia, hat einmal in einem Interview gesagt: ‚Von den Romantikern stehen mir Schubert und Schumann am nächsten. Meine Natur als Musiker ist fest geradeaus, nicht biegsam oder geschmeidig. Wenn wir das mit den Tieren vergleichen, habe ich wenig von der Natur der Katze in mir, mehr von der des Hundes. Die Beweglichkeit der Katze findet sich bei Mozart und Chopin, eine einschmeichelnde Beweglichkeit. Du beobachtest die Konturen und siehst keine Ecke. Bei Haydn, Beethoven und Schumann sind diese Ecken sichtbar. Ich spiele zwar selbstverständlich auch Chopin. Ich habe es aber immer vermieden, ihn auf der Bühne zu spielen, weil ich immer argwöhnte, dass es nicht das war, was es sein sollte. Ich habe auch Mozart nicht so oft gespielt. Viel lieber spielte ich Haydn, Beethoven, Schubert …‘ Das heißt, dass die (ja auch in der Psychologie bekannte) Einteilung in Katzen und Hunde ebenso wie bei den großen Komponisten auch bei den gewöhnlichen und ungewöhnlichen Menschen besteht. Hermann Hesse zum Beispiel ist eine Katze (sein autobiographischer Held Harry Haller aus dem Roman „Steppenwolf“ klammert sich in einem seiner Zauberträume an die langen Haare Mozarts und so schaukelt er auch in der Welt herum …) und Thomas Mann ist ein Hund. Katzen sind Bach, Mozart und Chopin. Hunde sind Beethoven, Haydn, Schubert und Schumann. Eine Katze ist Don Quijote und ein Hund Sancho Panza. Als ich diese psychologische Einteilung fand und mich daran erinnerte, dass ich nach dem orientalischen Kalender ein Tiger bin (da ich 1962 geboren wurde), d.h. dass ich eine Katze bin, entdeckte ich auch, dass ich seit meiner Kindheit den Katzen-Komponisten viel näher stehe. Es machte mich glücklich sie zu hören, während ich vor den Hunde-Komponisten wegrannte. Später passierte mir genau dasselbe mit der Literatur. Seitdem weiß ich, wie ich meine Werke schreiben soll. Der Stil eines jeden meiner Werke ist durch einen Komponisten oder eine Musik des Katzentyps bedingt: elastisch, knapp und ungezwungen. An diesem Zyklus von Miniaturen habe ich zum Beispiel mein ganzes Leben lang geschrieben. Ihnen liegen einzelne musikalische Phrasen von Komponisten zu Grunde. Wenn man einzelne Ausschnitte spielt, ohne sie zu beenden, und dann zu den nächsten übergeht, entsteht am Ende ein Mosaik … Was ich schreibe, kommt nicht aus anderer Literatur oder ist von anderen Schriftstellern beeinflusst, sondern ist im Grunde der Musik entnommen. Genauso suche ich immer wieder „meine Katzen-Maler“ für visuelle Vorstellungen und versuche dann, etwas zu schreiben. Diesen Zugang zur Literatur verursachten die in der Kindheit angehörten Musikarten: vor der einen bin ich weggerannt, die andere habe ich immer wieder gesucht.“ Nach der Schulzeit entschied sich Micho Mossulischwili für das Studium der Geologie und Geographie, das er 1981-1986 an der Universität von Tiflis absolvierte. Im Nebenfach studierte er Kinodramaturgie. Schon zu dieser Zeit war er schriftstellerisch tätig. Für das Studium der Geologie hatte er sich entschieden, um finanziell unabhängig zu sein und damit seinen literarischen Neigungen besser nachgehen zu können. In der Sowjetunion war es nicht leicht, als Literat zu leben, wenn man nicht vollständig mit dem System übereinstimmte. Im letzteren Falle musste man längere Zeit auf die Veröffentlichung seiner Werke (und damit auf die davon abhängenden Honorare) warten. Micho Mossulischwili bemerkt dazu: „So wie meine anderen Freunde dachte auch ich, dass Literatur und auch die anderen Kunstrichtungen nicht eingeschränkt werden sollten. Sie dürfen auf keinen Fall einer Ideologie hörig sein. Sonst verschwindet beim Verschwinden der Ideologie auch das Interesse am Werk.“ Aber es kam noch ein anderer Aspekt hinzu: „Ich frage mich: Was willst du eigentlich bei der Geologie? Warum wolltest du das lernen und später darin arbeiten? Auch heute denke ich genau dasselbe wie damals: Das Leben der Geologen ist das Leben von Wandernden und Reisenden. Wer danach strebt, viel zu sehen, blickt dabei nicht nur in die geographische Landschaft und zu den dort lebenden Menschen, sondern auch in die Tiefe der Erde und der Vergangenheit.“ Seine erste Novelle „Der Waldmann“ schrieb er bereits 1982. Sie wurde 1984 in der angesehenen traditionsreichen, 1852 gegründeten literarischen Zeitschrift „Ziskari“ veröffentlicht. Während des Studiums absolvierte er im Sommer 1985 ein geologisches Praktikum in der Berg-Region Ratscha im mittleren georgischen Kaukasus-Gebiet, das er sehr genoss. Ein Jahr später schloss er das Studium ab und wurde danach als Geologe bei der Georgischen Geologisch-Geophysikalischen Gesellschaft angestellt. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er in der nordöstlich gelegenen Bergregion Pschawi eingesetzt, der Heimat des von ihm verehrten georgischen Schriftstellers Wascha Pschawela. Die Arbeit begann im Frühling. Sie zogen mit Zelten und Ausrüstung über Wiesen und Felder, nahmen Gesteinsproben und erstellten Pläne über mögliche Rohstoffvorkommen. „Diese Beschreibungen wurden auf Russisch verfasst und an das Ministerium für Bergbau der Sowjetunion geschickt.“ Die Tätigkeit war interessant und voller unerwarteter Begebenheiten. „Ich hatte alltägliche Beziehungen zu den Einheimischen in Pschawi. Ich schrieb alles in meinem Notizbuch auf, was sie mir erzählten. Die Pschawier sprachen in ihrem eigenen Dialekt, der vielleicht nicht nur ein Dialekt ist, weil diese Sprache eigentlich das Altgeorgische bewahrt hat. In diesem Dialekt schrieb der große Wascha Pschawela, dessen Werke sehr viel Gemeinsames mit Goethe, vor allem dessen Faust, haben, was ein eigenes Thema für die Literaturwissenschaft sein könnte. Für mich als Schriftsteller war die Erfahrung als Geologe in Pschawi, wo man heute noch Wascha Pschawelas Sprache spricht, äußerst fruchtbar. Dem Leben „in dieser Ecke“ fühlte ich mich sehr verbunden. Mein Notizbuch ist voller Anmerkungen zu dem, was ich dort gehört habe. Ich schrieb ganze Tagebücher und bewahrte sie auf, was ich später gut in Erzählungen verarbeiten konnte.“ 1987 heiratete er. Der Ehe entstammt eine Tochter. 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das geologische Institut in Tiflis aufgelöst und die dort beschäftigten Geologen wurden arbeitslos. Die Schwierigkeiten dieser Zeit und der Zerfall der alten Gesellschaft sind in vielen seiner Miniaturen zu spüren. Micho Mossulischwili selbst verdiente seinen Lebensunterhalt nun als Journalist bei verschiedenen Zeitungen, als freier Schriftsteller sowie als Übersetzer von Drehbüchern für die Fernsehproduktion. Daneben übersetzte er auch schöne Literatur, vor allem einige Kriminalromane des bekannten russischen Autors Boris Akunin. Zum Untergang des sowjetischen Imperiums und der Rolle Georgiens bemerkt er: „Was fühlte ich, als die Sowjetunion zusammenbrach? Ich wusste, dass es ein Land mit einer wackligen Ideologie war, die den Menschen vergessen hatte und aus den Menschen kommunistische Drachen gemacht hatte. Sie wäre auf jeden Fall auseinandergebrochen. Es gab keinen anderen Weg. Aber ich war sehr traurig, dass mein kleines Land und meine kleine Familie in den Trümmern dieses großen Imperiums verschüttet waren. Ich denke auch jetzt, dass wir uns immer noch zwischen den Trümmern des russischen Imperiums befinden und dass Russland mit seinen schleichenden Okkupationen gegen uns kämpft, dass es mit den von ihm finanzierten Gruppen und Fernsehsendern – soweit es die internationale Gemeinschaft zulässt – daran arbeitet, uns zu zähmen und wieder in sein erneuertes und modernisiertes Imperium hineinzubringen.“ Micho Mossulischwili ist heute ein äußerst fruchtbarer Autor, der vor allem auf den Gebieten der Prosa und des Dramas tätig ist. Seine Novellen und Romane sind oft auf den georgischen Bestsellerlisten zu finden, seine Theaterstücke werden an allen namhaften Theatern Georgiens gespielt, darunter auch am Akademischen Schota-Rustaweli-Theater in Tbilissi, dem ersten Theater Georgiens. Er wird häufig mit Preisen ausgezeichnet, national wie international. In Deutschland ist vor allem seine Kriminalsatire in einem Akt „Weihnachtsgans mit Quitten“ bekannt geworden, die humorvoll Kritik an der modernen Konsumgesellschaft übt. Einen Bezug zu Deutschland hat auch sein Roman „Flug ohne Fass“, in dem es – unter Anspielung auf den Fassritt Mephistos und Fausts in Auerbachs Keller – um das halblegale Dasein dreier georgischer Emigranten in deutschen Flüchtlingslagern und allgemein ihr Schicksal in Deutschland zusammen mit ein paar nigerianischen Gaunern geht. Micho Mossulischwili greift die unterschiedlichsten Themen in seinen Werken auf. Sein Interesse endet nicht an den Grenzen Georgiens. Wir werden noch viel von ihm erwarten können. Joachim Britze
Aktualisiert: 2023-05-30
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Der edle Ritter unseres Landes

Der edle Ritter unseres Landes von Barbakadse,  Dato, Lisowski,  Maja, Ninoschwili,  Egnate, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli, Tsipuria,  Bela
Ein neues Leben für die Erzählungen von Egnate Ninoschwili Der Name Egnate Ninoschwili (1859-1894) ruft auch im heutigen Georgien widersprüchliche Assoziationen hervor. Dieser Zwiespalt hängt nicht so sehr von seinen literarischen Texten ab, als von dem Kontext, in dem er und seine Texte leben mussten. Dieser änderte sich mehrmals je nach geschichtlicher, politischer oder kultureller Lage Georgiens. Egnate Ninoschwili zählt zu den Autoren, deren Positionierung je nach kulturellem und politischem Kontext unterschiedlich verlief. Dementsprechend änderte sich nicht nur Ninoschwilis offizieller kultureller Status radikal, sondern auch die Beziehung des Lesers zum Autor. Solange er lebte und auch später in den 1910er-Jahren galt er als der Meister überzeugender realistischer Bilder, wurde aber nicht zu einer bedeutenden Figur der georgischen Literatur. Ende der 1910er-Jahre kam in Georgien eine gewaltige Welle der Moderne ins Rollen, die sich ihre europäischen Vertreter zum Vorbild nahm. 1918, gleich nach dem Zerfall des Russischen Imperiums, gründeten die Georgier einen souveränen Staat, die Demokratische Republik Georgiens, ganz nach dem europäischen Muster. Europäische politische Ideen: Demokratie, Republikanismus, Gleichberechtigung und Vielparteiensystem spielten bei diesem Prozess eine sehr große Rolle. Die Moderne wurde auch in Georgien sehr schnell zu einem vorherrschenden kulturellen Stil. Georgische Vertreter der Moderne sprachen in der georgischen Literaturkritik dem Erzählstil von Ninoschwili und seinem Einfluss auf den Leser eine positive Bedeutung zu. Grigol Robakidse (1882-1929) verglich sein Wort mit „Essig und Säure“. Das Bolschewistische Regime stellte Ninoschwilis Erzählungen gleich nach der Machtübernahme in Georgien (Februar, 1921) an die Spitze des georgischen Kanons und tauschte den Autor gewaltsam gegen die Vertreter der georgischen Moderne aus, gegen diejenigen, die der vorangehenden Generation angehörten und bedeutende Autoren des Realismus waren: ganz besonders gegen Ilia Tschawtschawadse (1837-1907). Ninoschwili erwies sich in der georgischen Literatur als geeignetster Autor für die Ziele der bolschewistischen kulturellen Revolution. Ein wichtiger Faktor war außerdem, dass Philipe Macharadse, ein georgischer Bolschewist und einer der Hauptakteure bei der russisch-sowjetischen Okkupation, der in den 1920er-Jahren die kulturelle Landschaft in Georgien überwachte, ausgerechnet aus dem Heimatort von Ninoschwili, aus Ozurgeti, aus der Region Guria, stammte. Hiermit begann Egnate Ninoschwilis aggressive Bekanntmachung. Anstelle der bedeutenden georgischen Autoren wurde er zu einem führenden erklärt. Schriftsteller und Kritiker aus dem Proletariat boten der georgischen Gesellschaft folgende dichotome Slogans an: „Ihr habt Ilia! Wir Egnate!“ In den 1930er-Jahren entwickelte die stalinistisch-totalitäre Kulturpolitik andere Mittel, um den sozialen Raum in die gewünschte Richtung zu lenken: dies beinhaltete nicht nur die Aneignung jener Autoren, die für die nationalen Ideale standen, in erster Linie Ilia Tschawtschawadse, sondern auch ihr Einwickeln in die sowjetische Hülle. 1932 gaben die georgischen Bolschewisten der Organisation, dem Schriftstellerverband Georgiens, der über den literarischen Raum wachen sollte, den Namen Egnate Ninoschwilis. Stalin schränkte aber sehr bald den Einfluss Philipe Macharadses ein und auch den Gebrauch des Namens von Egnate Ninoschwili. Als Schriftsteller besaß Ninoschwili den nationalen Einfluss nicht in dem Maße, mit dem er dem stalinistischen kulturellen Zwecken hätte gerecht werden können. Seine Werke durften jedoch weiterhin dem literarischen Kanon angehören. Also blieb er dort auch in der poststalinistischen Zeit, von den 1960er-Jahren bis hin zum Zerfall der Sowjetunion. Die ländliche Welt seiner bescheidenen und hoffnungslosen Erzählungen war neben dem modernen Georgien und neben den Werken der georgischen Autoren wenig beeindruckend. Seine Texte sprachen nicht die wesentlichen Fragen der damaligen Zeit an: die nationale und persönliche Souveränität und die Bündnismöglichkeit mit der freien (westlichen) Welt. Einige Erzählungen Ninoschwilis blieben noch immer Pflichtlektüre in der Schule. Diese wurden aber immer als vom Regime aufgezwungene Werke empfunden. Das erschwerte ihre realistische Wahrnehmung sehr. Seit den 1990er-Jahren, also in der postsowjetischen Periode, sofort nach der Aufhebung der sowjetischen Norm, verschwanden diese Werke sowohl aus dem Schulkanon als auch aus dem Schulcurriculum. Erst in den letzten Jahren erlangte Ninoschwili wieder die Aufmerksamkeit in den neuen Kreisen mit der westlich linken Anschauung. Die literarische Kraft und der Expressionismus der realistischen Werke Ninoschwilis spielte und spielt auch heute keine besonders bedeutende Rolle. Egnate Ninoschwilis Namen verfolgt auch heute jene ideologische Schleife, die er während der Sowjetzeit bekam: durch die Manipulation biographischer Fakten bekam die georgische Gesellschaft einen Schriftsteller präsentiert, der abgeschieden und verarmt lebte, aber im Marxismus die befreiende Kraft sah und als Vorbote der bolschewistischen Revolution dienen sollte. Das Leben und Wirken des Schriftstellers lieferte dazu ausreichend Gründe: er schrieb über soziale Probleme, über das Leben der Bauern und vor allem gehörte er zu dem kleinen Kreis der Autoren, der aus der niedrigen sozialen Schicht in die Literaturwelt aufgestiegen war. Er war in der Familie eines verarmten Bauern geboren, lebte in ärmlichen Verhältnissen, arbeitete als Dorflehrer und auch als Bauarbeiter; unter allen damaligen Schriftstellern war ausgerechnet er derjenige, der eine große Rolle bei der Verbreitung des Marxismus und der Sozialdemokratie spielte; der wesentliche und willkommene Faktor war nach russischen Bolschewisten und ihren georgischen Korrelaten dabei, dass Ninoschwilis bekannteste Texte niemals die nationalen Fragen ansprachen. Im Georgien des 19. Jahrhunderts, das zu einem Teil des russischen Imperiums geworden war, waren eben diese Fragen die wichtigsten in der Literatur. Um die Beziehung zwischen Ninischwilis Texten und seiner Biographie mit der damaligen, zeitgenössischen Gesellschaft zu verstehen, wäre es sehr wichtig, die georgische Realität und die allgemeine Stimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu berücksichti- gen. Georgiens Kolonialisierung durch Russland begann 1801: das Königreich von Kartl-Kachetien wurde annektiert und in das russische Imperium eingegliedert. Die jahrhundertlange königliche Dynastie der Bagratiden und die Autokephalie der georgischen orthodoxen Kirche wurden aufgehoben. In der damaligen georgischen Poesie wurde diese Kolonialisierung als ein großes nationales Trauma empfunden. Der Verlust der nationalen Souveränität und die Hoffnung auf ihre Wiederherstellung waren die wichtigsten Themen in der damaligen Literatur und Gesellschaft. Nebenbei vollzog sich die Anpassung an den russischen Verwaltungsapparat. Die georgische Poesie verinnerlichte am Anfang des 19. Jahrhunderts die Ästhetik und die Ideale der europäischen Romantik. Eine Gesellschaft nach moderner Art bildete sich heraus. Nationale Widerstandskämpfe fanden statt; Anfang der 1930er-Jahre keimten Wünsche nach der Wiederherstellung eines souveränen Staates und der Erschaffung einer Republik nach europäischem Vorbild auf. Diese kulturellen und nationalen Anstrengungen verließen jedoch nicht die elitären und adeligen Kreise Georgiens. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Tendenzen noch demokratischer. Eine breite Masse der Gesellschaft machte bei den Prozessen der Europäisierung, Modernisierung und nationalen Identifizierung mit. Die Generation der 1860er-Jahre, die so genannte „Generation der Sechziger“, setzte sich unter der Leitung von Ilia Tschawtschawadse zum Ziel, die Georgier national zu vereinigen, ihre nationale Identität herauszubilden, innerhalb der Grenzen des russischen Imperiums eine imaginäre Grenze Georgiens zu ziehen. Dementsprechend existierte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in der georgischen Gesellschaft ein quasi unabhängiger Raum. Der russische Verwaltungsapparat wurde als administrative Realität wahrgenommen, neben der den Georgiern ihre nationalen Ziele erlaubt sein sollten: die Erschaffung einer starken westlich orientierten Gesellschaft und die Vorbereitungen für die Gründung eines souveränen Staates. Die Prozesse, die von der Generation der Sechziger, unter ihnen Ilia Tschawtschawadse, angestoßen wurden, nahmen in den nächsten Jahrzehnten deutlich an Kraft zu, es entstanden georgische Druckerzeugnisse und bedeutende Texte der georgischen Literatur; das georgische Theater wurde sehr populär; durch die Arbeit der Gesellschaft für die Verbreitung der Lese- und Schreibkenntnisse gab es nun auch in den untersten Schichten Lese- und Schreibkundige; die Bildung bekam Priorität; durch private Initiativen entstanden Grund- und weiterbildende Schulen; für einen Hochschulabschluss reiste man nicht mehr nach Russland, sondern nach Europa. Das waren nicht nur Adelige, sondern auch solche jungen Leute, die wie Ninoschwili nicht aus wohlhabenden Familien stammten; die ersten politischen Ideen fanden ihren Einzug. Egnate Ninischwili betrat so eine literarische Arena. Er war Teil dieser Prozesse. Die sowjetische Literaturkritik versuchte tendenziell jene Stereotypen zu etablieren, in deren Leben es nur zwei Welten gab: ein Dorf in Guria, das in Armut versank und die Hoffnung, dieser Armut zu entkommen. Also die Entsprechung für eine neu entstandene marxistische Bewegung. Hinter dieser konstruierten Biographie war Ninoschwili noch als Publizist und Schriftsteller zu sehen. Seit Ende der 1880er-Jahre veröffentlichte er Artikel und Feuilletons in der Zeitschrift „Iweria“, deren Gründer und Herausgeber Ilia Tschawtschawadse war. Er arbeitete bei den georgischen Zeitschriften und Zeitungen: „Moambe“, „Theater“, „Kwali“ usw. Er studierte in Frankreich, in Montpellier (1886-1887), lernte Deutsch, arbeitete als Dorflehrer, als Sekretär des Herzogs von Guria, scheute sich nicht vor körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft. Alle diese Beschäftigungen waren für Egnate Ninoschwili die Mittel, um seine Schriftstellertätigkeit zu verwirklichen. Egnate Ninoschwilis Beziehung zu der neu entstandenen marxistischen Bewegung war eine andere Frage. In den 1880er-Jahren lernten die Georgier die europäischen Ideen unmittelbar in Europa kennen und nahmen diese als Perspektiven für die russische Entkolonialisierung wahr. Das war die Fortführung der Position Ilia Tschawtschawadses und seiner Mitstreiter, nach der die georgische Gesellschaft die soziale Kultur der europäischen Gesellschaft adaptieren, sich als eine bürgerliche Gesellschaft etablieren und sich für die Befreiung von der russischen Herrschaft bereit machen sollte. Zu dieser Zeit verbreiteten sich revolutionäre, antimonarchische politische Tendenzen aus Russland, die in Wahrheit nur die Reorganisation Georgiens beabsichtigten und nicht seine Zerstörung. Die Verbreitung des Marxismus geschah in Georgien auf der Grundlage dieser zwei Tendenzen. Ende des 19. Jahrhunderts existierte hier eine radikale marxistische Gruppe, die sich um die russischen Marxisten versammelte, die aus dem russischen Zentrum im Kaukasus untergetaucht waren. Unter ihnen befand sich auch der junge Stalin. „Die Dritte Gruppe“ wurde zu einer legalen Organisation, die die Ansichten der Marxisten teilte. Sie wurde in den 1892-1893er-Jahren in Georgien zu der ersten politischen Organisation. Genau an ihrer Spitze war Egnate Ninischwili zu sehen. Zusammen mit seinen Gleichgesinnten und Freunden gehörte er 1892 zu der Initiativgruppe. Neben ihm war dort Noe Schordania, der Regierungschef des zukünftig unabhängigen Georgiens (1918-1921), der 1893 das Handlungsprogramm für „Die Dritte Partei“ erstellte. In diesem Programm standen wirtschaftliche, nationale und persönliche Ziele und auf dem europäischen Boden die „Europäisierung“ aller Georgier im Vordergrund. Die Bekanntmachung des Programms der „Dritten Gruppe“ fand am 12. Mai 1894 bei der Beerdigung Egnate Ninoschwilis, der mit 35 Jahren an Tuberkulose verstarb, in seinem Heimatdorf Tschantscheti statt. Obwohl die „Dritte Gruppe“ eine Organisation war, die durch marxistische Ideen inspiriert worden war (10 Jahre nach der Gründung wird sie in den Kaukasischen Verbund der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beitreten), entwickelte sie sich in Wirklichkeit zu der menschewistischen Kraft, die später an der Spitze des unabhängigen Georgiens stehen wird, und nicht zu einer bolschewistischen Macht, die durch die Annektierung Georgiens an die Herrschaft gekommen war (die dann die menschewistische Regierung Georgiens stürzte). Die Menschewiken und die Bolschewiken, dieser zwei Fraktionen einer sozialdemokratischen Partei, verband weder in Russland noch in Georgien ihre Gleichgesinnung oder ihre Zusammenarbeit miteinander. Nach der Sowjetisierung Georgiens ging die menschewistische Regierung ins französische Exil. Alle, die mit den Menschewiken zu tun hatten und geblieben waren, fielen in Georgien den anschließenden sowjetischen Repressalien zum Opfer. Egnate Ninoschwili wurde zum Vorreiter der bolschewistischen Bewegung und des sowjetischen Georgiens erklärt. Das war ein weiteres Beispiel, wie das Regime die Geschichte und Kultur beeinflusste, um einer sowjetischen Literatur in Georgien das Leben einzuhauchen. Mit der Aneignung dieser Figur nahm die sowjetische Ideologie dem georgischen Leser die Möglichkeit der wahren, objektiven Wahrnehmung der Werke dieses Schriftstellers. Egnate Ninoschwili schrieb seine Werke in den letzten sieben Jahren seines Lebens. Sie wurden in den Druckmedien sowohl während seines Lebens als auch nach seinem Tod veröffentlicht. Das wies auf die Bedeutung seiner Texte unter den Lesern hin; noch bevor sich das sowjetische System seine Werke aneignete und mit seiner erzwungenen Bekanntmachung begann. Ninoschwilis Werke enthalten den Roman „Aufstand in Guria“, und um die zehn längere Erzählungen, deren Protagonisten für den georgischen Leser sehr bekannt sind. Sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck und erwecken Mitgefühl. Sowohl der Roman als auch einige seiner Erzählungen wurden schon in den 1920-1930er-Jahren in Georgien verfilmt. Der erste georgische Kinofilm „Christine“ wurde nach dem gleichnamigen Roman Egnate Ninoschwilis in den 1916-1918er-Jahren gedreht. Der Produzent war Germane Gogotadse und der Regisseur Aleksandre Tsutsunawa. Christines Gesicht, eine Bauernfrau, die von einem Adeligen vergewaltigt wird, die wegen des sozialen Drucks aus dem Heimatdorf fliehen muss und in Tiflis zu einer Prostituierten wird, bewegte nicht nur den georgischen Leser sehr, sondern auch allgemein die Kunst. Der Maler Lado Gudiaschwili erschuf eine moderne Interpretation Christines: „Am Stadtrand (Christine)“ (1917-1919). Das Gemälde ist heute in der Dimitri-Schewardnadse-Nationalgalerie ausgestellt. Solche Probleme, wie: die Schutzlosigkeit einer Frau gegenüber sozialen Vorurteilen, das Elternhaus, als der Raum ihres Gehorsams und der Kultivierung gegenüber den sozialen Klischees, der Kontrast zwischen Stadt und Land, das Ignorieren der Identität des Einzelnen von der urbanen Welt, die Objektivierung der Frau, machen Ninoschwilis Erzählung unglaublich emotional und regen den Leser zum Nachdenken an. So wurde er im modernen Georgien wahrgenommen und wirkt auch heute spannend und zeitgenössisch. In der Sowjetzeit wurde dieser Text keineswegs hochgeschätzt. Damals waren für die Ideologie überwiegend solche Erzählungen von Bedeutung, die das Schicksal eines verzweifelten und unglücklichen Bauern darstellten. Die sowjetischen Kritiker mussten eigens die Position zum bäuerlichen Leben erschaffen. Zwar war die Arbeiterklasse die treibende Kraft des Bolschewismus, aber da in Ninoschwilis Erzählungen das qualvolle Leben der untersten Schicht der Bauernschaft geschildert wurde, diente auch dieses gut, um dadurch die Kritik am Zarentum zu verstärken und die Notwendigkeit der bolschewistischen Revolution in den Vordergrund zu stellen. In Wirklichkeit war die Kritik des Zarentums nie das Thema von Ninoschwilis Erzählungen. Das entsprach aber jener Dimension, in der die sowjetische Literaturkritik jeden beliebigen vorrevolutionären Text präsentieren konnte. Das war der Blick auf den historischen Fortschritt, auf die sowjetische, historische Dialektik: Bei der Beschreibung der Vergangenheit war es möglich, sogar den russischen Aggressor im negativen Licht zu zeigen, aber nur unter dem Vorbehalt, dass er zum zaristischen Regime gehörte und nach der bolschewistischen Revolution ausgerottet sein würde. In der georgischen Literatur, und auch bei Egnate Ninoschwili, war die reale Wahrnehmung der Probleme weder mit dem Zarentum noch mit der russischen Kolonialisierung verbunden. In der Erzählung Ninoschwilis, „Gogia Uischwili“ (1889) wird dieses als gegeben vorausgesetzt, keiner kann sich dagegen wehren und keiner kann es ändern: „Die ganze Welt wird geknechtet und ins Verderben getrieben“. Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre, in denen Ninoschwilis Erzählungen geschrieben wurden, war das russische Imperium und sein georgischer Teil, die Gouvernements von Tiflis und Kutaisi und der Bezirk von Batumi, jene Regionen, die nach wirtschaftlichem und kulturellem Fortschritt strebten. Nachdem in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, begann in den 1864er-Jahren auch hier die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Natürlich gab es noch die Schicht der verarmten Bauern und Adeligen (Ninoschwili war ihr Verteidiger), aber die Aufmerksamkeit der georgischen Gesellschaft galt nicht ausschließlich diesen bäuerlichen Problemen. Im Gegenteil: die georgischen Druckmedien und auch die georgische Literatur unterhielt sich mit dem Leser über die nationale Konsolidierung, über die kulturelle Kommunikation mit Europa und über die Zukunftsziele der Georgier. Über die Frage der Bauern hatten sich die georgischen Schriftsteller nicht nur Gedanken gemacht, sondern mit ihren Problemen auch tatsächlich beschäftigt: Ilia Tschawtschawadse war erst der Vermittler in den ersten Jahrzehnten der Bauernreform und später auch der Schiedsrichter. Diese Problematik beschrieb er auch in seinen Prosawerken. In den 1870-1880er-Jahren beschäftigte sich damit eine kleine Gruppe der Schriftsteller, die „georgischen Volksvertreter“. In der georgischen Presse werden Artikel über das Landleben veröffentlicht, aber weder damals noch in den 1890er-Jahren stand dieses Thema im Mittelpunkt des georgischen gesellschaftlichen Diskurses. Damals entsprach das eher dem Diskurs der Moderne, der sich an nationalem Fortschritt, Modernisierung und Europäisierung orientierte. Tiflis wurde zum Zentrum der gesamten kaukasischen Verwaltung, Kultur und Wirtschaft. In Westgeorgien entwickelten sich neben der Hauptstadt des Gouvernements Kutaisi auch die Hafenstädte Batumi und Poti weiter. Sie waren Transitstädte für die westliche Wirtschaft und für das Mineralöl aus Baku. Die Dörfer von Guria lagen in unmittelbarer Nähe. Nichtsdestotrotz waren die Dörfer, in denen Ninoschwili seinen literarischen Schauplatz schuf, irgendwie isoliert, nicht nur von der ganzen restlichen Welt, sondern auch von den georgischen Städten und dem sozialen Raum. In der Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird Poti zwar als eine Stadt, in der die Gurier Handel treiben und Geschäfte machen, erwähnt, wird aber gleich gesagt, dass der Eintritt dorthin und der Transportweg dorthin für sie sehr gefährlich ist, eben wegen dieses „schrecklichen“ Sees. Das geographische Hindernis des Sees wird in Ninoschwilis Erzählung zu einem symbolischen Hindernis, das die Isolation und die Abgeschiedenheit der Dorfbewohner in Gurien verursacht. Deshalb nimmt der Bauer, der beim Schriftsteller verallgemeinernd für alle seine Protagonisten steht, die Welt, die außerhalb seines Dorfes liegt, fast gar nicht wahr. Seine ganze Erwartung von der Welt ist, dass seine kleine Familie das Recht auf das Leben, die Existenz und den Lebensunterhalt hat. Bemerkenswert ist auch, dass diese Grundbedürfnisse auch das Recht auf die Liebe und das Recht auf den Erhalt der Menschenwürde beinhalten. Gogia Uischwili, einer der bekanntesten Helden in Egnate Ninoschwilis Erzählungen, verzichtet auf das Leben, nachdem eben diese Menschenwürde verletzt wird. Ein Bauer, der keine harte Arbeit scheut, um seine Familie zu ernähren, begegnet einer Welt so, wie sie auch tatsächlich existiert: mit seiner Armut, einem Stückchen Land, mit wenig Ernte, die durch harte Arbeit erzielt wird, mit überhöhten Abgaben und Strafmaßnamen durch die russische imperialistische Armee (Exekution). Dieser Bauer glaubt fest daran, dass er und seine Familie das Anrecht auf das Neujahrsfest und auf die damit verbundene Freude haben. Er hat das Recht auf eine Feier. Dies beinhaltet die Vorbereitung von besonderen Gerichten, die feierliche Stimmung, die spielenden Kinder. Wahrscheinlich ist das für Gogia die einzige Brücke, die ihn mit der Tradition verbindet, sich als ein Individuum fühlen und ihn sein menschliches Dasein empfinden lässt. Für Gogia und seine Frau Marine heißt es zugleich das Recht auf eine bessere Zukunft. Dieses „süße Leben“ und der morgige Tag sind in ihren Vorstellungen etwas fröhlicher und satter als der heutige. Diese Erneuerung kann in der gegebenen geschlossenen Welt entstehen, in der Fortsetzung des gegebenen einfachen Lebens. Dabei macht es nichts aus, dass sie das Leben Gogia Uischwilis, seiner Frau und ihrer fünf Kinder nicht wesentlich verändern würde: die Hoffnung auf ein besseres Leben wird beim Empfinden der Feierlichkeiten geboren, d.h. das Recht auf eine Feier gleicht damit dem Recht auf Menschenwürde. Das Verletzen dieses Rechts ist hiermit das Verletzen der Menschenwürde. Nachdem sich die Straf- einheit der russischen Armee im Dorf niederlässt, um die Dorfbewohner zu kontrollieren und sie gegebenenfalls zu bestrafen, da sie einem Gesetzlosen Obdach gewähren, ist Gogia bereit, noch zusätzlich zu arbeiten und die Gebühr der Exekution zu zahlen. Da er diese Abgaben doch nicht leisten kann, wird ihm der Lebensmittelvorrat, der für die Feiertage bestimmt war, weggenommen. Weil er Widerstand leistet, wird er dem Verwalter vorgeführt. Er wird ausgepeitscht. Gogia denkt nun, dass seine Lebenskraft aufgebraucht ist. Die Grenze des freudlosen Daseins, worüber er sich vor seinem Tod beschwert, stellt für ihn das Verletzten seiner Würde und das Auspeitschen dar. Er begeht den Selbstmord sehr bewusst, nachdem er die ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, und mit der Erkenntnis der Schuld: da er es nicht mehr ertragen kann, nicht mehr hinnehmen kann, beschließt er zu fliehen. Er ist ein Verräter. In seinem Monolog vor dem unmittelbaren Tod, so wie in den meisten Höhepunkten in Ninoschwilis Erzählungen, erreicht die Tragik jene Qualität, jene Kraft an emotionalen Impulsen, die den Erzählungen die Überlebenskraft verleihen. In den Erzählungen Ninoschwilis sind die Klarheit und die Zielstrebigkeit der Erzählaufgabe so gegeben, dass der Autor den Leser dorthin auf dem direkten Weg und ohne Umschweife bringt. Den Höhepunkt der Erzählungen stellt jedes Mal der Tod dar. Das, was nach diesem Höhepunkt übrig bleibt, ist: die Verwüstung. Bei allen Werken ist das Ende tragisch. Die Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird mit der Absicht geschrieben, um den Untergang zweier Helden darzustellen. Das ist die einzige Handlung, die in diesem Text erzählt wird. Im Unterschied zu anderen Texten Ninoschwilis wird hier dem historischen und sozial-ökonomischen Kontext soviel Aufmerksamkeit gewidmet, dass dieser Ausschnitt für einen gewissen publizistischen Essay gehalten werden könnte; erst danach ist der Schriftsteller mit der Beschreibung des tödlichen Weges seiner Helden beschäftigt. Die Geschichte des berühmten Holzfällers Iwane und seines Sohnes Niko ist sehr tragisch: obwohl sie fleißig und ehrlich arbeiten, können sie dem Schicksalsschlag nicht entkommen; während des Transports der gefällten Bäume lauert der Tod im See von Paliastomi auf sie. Das Leben sowohl des Vaters als auch des Sohnes, ihre Hoffnungen, ihre Leichen gehen in diesem Wasser unter. Die Beschreibung des Todes dient dem Ziel des Erzählens, so erschafft ein realistischer Schriftsteller die Poetik des Todes. In vielen Erzählungen folgt dem Tod des Helden auch der Tod der Familienangehörigen und die Verwüstung von deren Hab und Gut. So ist es auch in der Erzählung „Gogia Uischwili“; obwohl hier im Epilog die Hoffnung aufkeimt, als der Sohn nach Jahren beginnt, das Elternhaus wieder aufzubauen (gefolgt von nicht so hoffnungsvollem Kommentar des Autors). In einer Erzählung, die einige Jahre später geschrieben wurde, wird alles so zerstört, dass nur noch eins übrig bleibt: die Verwüstung. Der Held der gleichnamigen Erzählung (1892), seine Familie und sein Gehöft sind so heruntergekommen, dass es am Ende weder Überlebende noch Hoffnung gibt. Genau das bedeutet das georgische Wort für „Verwüstung“. Die materielle Armut, die den bäuerlichen Hintergrund voraussetzt, ist mit der Bitterkeit seiner Darstellung verbunden. Die Bitterkeit wird durch den Gehorsam gegenüber jenen sozialen Vorurteilen verursacht, die in der mikrosozialen Welt des Dorfes beheimatet sind. Wenn Egnate Ninoschwili uns einen seiner Helden vorstellt, fügt er immer einen Kommentar hinzu, wie diese Person von der Dorfgemeinschaft und von jedem Einzelnen wahrgenommen wird. Dieses literarische Mittel ist nicht nur von der Seite der Erzählperspektive interessant, sondern zeigt auch die Bedeutung der Ansichten des Einzelnen in jener Welt, die der Autor beschreibt. Die Protagonisten handeln und entscheiden oft, um der Kritik dieser Gemeinschaft zu entgehen. So ist es auch in „Die Verwüstung“ und in „Christine“. Natürlich ist die Anständigkeit einer Frau in dieser Gemeinschaft eines der standhaften Modelle. Seine Verteidigung hat die Aufopferung des Individuums als Preis. Die Helden akzeptieren die sozialen Vorurteile ohne Kritik und ohne Widerstand. Auf diese Weise zeigt uns der Schriftsteller seine kritische Position gegenüber diesen Stereotypen. Die Wahrnehmung der Welt bei den Bauern von Egnate Ninoschwili kennt nicht die moderne Welt, die rationale Sichtweise, das Wissen, den Fortschritt, die urbane Welt (selbst Christine, eine der wenigen Ausnahmen der Helden, die sich in Tiflis niederlässt, kann bei ihren Ansichten die Grenzen ihres Dorfes nicht verlassen). Ninoschwilis Bauer ist kein Kind der modernen Zeit, als könnte er nicht weitsichtig genug sein, vielleicht, weil seine Wahrnehmung so einfach und primitiv ist. Selten entsteht eine Frage gegenüber der Welt, und wenn doch, dann blitzen diese Fragen sehr schwach auf, und der Held weiß schon von vorherein, dass er keine Antworten bekommen wird; die Welt der Erkenntnis oder des Glaubens öffnet sich nicht für ihn, und er sieht diese nicht einmal; seine Wünsche und Bedürfnisse gegenüber dem Leben sind so spärlich, wie die vorherbestimmte Wirklichkeit, die ihm das Leben bietet; er verlangt gehorsam und genügsam von der Welt das Recht, in diesem geschlossenen Raum zu existieren. Die Werke Egante Ninoschwilis erzählen uns genau von jener Verantwortung, die in einer Gesellschaft auch gerade für diese rechtsbedürftigen Menschen existieren sollte. Wieso wählte der Schriftsteller diesen Weg, wieso ließ er viele aktuellere Themen unbeachtet, wieso setzte er sich zum Ziel, jene Stimme der Bauern zu werden, die, zu seinem Lebzeiten, in seiner Heimat, in seinem Dorf, keine Stimme hatten? Zur Metapher eines stimmlosen und stummen Menschen wird bei Egnate Ninoschwili Kazia Mundshadse (Stumm) in der Erzählung „Verfügung“ (1893). Ninoschwili sucht die Namen für seine Helden nach einem einfachen literarischen Stil. Der Held Kazia ist stumm, im übertragenen Sinne dieses Wortes. Er folgt den Anordnungen des Verwalters sogar dann ohne Widerspruch, als er körperlich vollkommen erschöpft ist: er übernimmt die Nachtschicht im Bahnhof; wartet auf das Erscheinen des Zuges (damit das Vieh in der Zeit nicht die Gleise überquert und dadurch eine Zugkatastrophe heraufbeschwört; so einen Fall hat es schon mal gegeben, und wenn ein „hohes Tier“ mit dem Zug reist, ist der Verwalter besonders aufmerksam); der müde Kazia möchte ein Nickerchen machen und legt den Kopf auf die Gleise, damit er den annähernden Zug nicht überhören kann; am nächsten Morgen findet der Bahnhofswächter eine kopflose Leichen an den Bahngleisen. Dieses Bild mit seiner wortlosen Tragik ist die Metapher für jene ausweglose Situation, in der sich die Welt Egnate Ninoschwilis und die Menschen, die in dieser geschlossenen Welt leben, geraten sind. Der Zug, der auf „glitzernden“, leuchtenden Gleisen gleitet, kann als Metapher für den Fortschritt verstanden werden, der seinen eigenen Weg folgt und den nichts aufhalten kann. Ihm gegenüber hat ein Mann, der dem Schicksal ergeben dient und sich nicht wehrt, keine Chance. Wir könnten annehmen, dass der Zug für Egnate Ninoschwili eine Art Agent der elitären Welt ist, der in marginale Welten eindringt und diese zerstört. Der Schriftsteller will uns weder als Gegner dieses Fortschritts erscheinen noch als Verteidiger des dörflichen Stillstands. Er möchte uns einfach zeigen, dass es zu seiner Zeit neben der schnellen und eiligen Welt auch eine in sich geschlossene, stillstehende und hoffnungslose Welt gibt. Trägt die moderne Realität, die auf der Idee des Fortschritts basiert, irgendeine Verantwortung gegenüber dieser ausgelieferten Realität? Egnate Ninoschwili als Schriftsteller beschreibt, urteilt und analysiert in seinen Texten nicht die dynamische moderne Welt, die schon sehr viel Kraft außerhalb seiner Heimat besitzt und auch hier an Bedeutung gewinnt; er lernt diese selbst kennen und wird auch selber ein Teil davon. Der Schriftsteller versucht nicht, das bäuerliche Dasein und das einfache Dorfleben zu idealisieren, er sagt nicht, „bei ihnen tobt das Leben“ (das sagte Ilia Tschawtschawadse über sie); seine Poetik ist nicht auf der Gegensätzlichkeit des städtischen Chaos und des ländlichen Ideals gebaut (das machen später die Vertreter der georgischen Moderne). Der Schriftsteller beschreibt diese einfache und hoffnungslose Welt irgendwie ohne Emotionen und macht sie zur Aufgabe seines Schaffens. Wenn in den 1910er-Jahren die Vertreter der georgischen Moderne erschüttert sind, weil Émil Verhaeren „den Tod der alten Welt beweint“ (T. Tabidse), ist in den Erzählungen Ninoschwilis so ein Klagen und Weinen, das Ende der vertrauten, kleinen Welt ein zentrales Thema und könnte zur Poetik der Empfindung des Weltuntergangs verallgemeinert werden. Unter diesem Aspekt könnten wir Egnate Ninoschwili doch dem Kontext seiner zeitgenössischen westlichen Literatur zuordnen, genauso wie die anderen georgischen Autoren, die sich ein paar Jahre nach dem Entstehen dieser Erzählungen genau denselben Kontext zum Ziel setzen werden. Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2023-05-30
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Winzige Freunde

Winzige Freunde von Chotiwari-Jünger,  Steffi;Chotiwari,  Artschil, Lomouri,  Niko, Papuaschwili,  Mariam, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Vor Euch liegen vier Märchen und eine Geschichte aus Georgien. Wir haben Euch die bei den georgischen Kindern am beliebtesten und bekanntesten literarischen Arbeiten ausgesucht, die wir einst selbst und auch unsere Kinder mit Vergnügen gelesen haben. Sie sind lustig und locker, sie geben Mut und Kraft, machen nachdenklich und regen an, im Leben aktiv sowie gewandt zu sein und nicht alles als gegeben hinzunehmen. Einen besonderen Platz nimmt das Thema der Freundschaft ein und die Erfahrung, dass sich Mühe und Ausdauer auszahlen.
Aktualisiert: 2023-05-30
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