Angst vor den „Ostjuden“
Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust
Dan Michman, Udo Rennert
Die Nazis haben bereits vor Beginn des Ostfeldzuges gegen die Sowjetunion allein bei der Eroberung von Polen 2,5 Mio. Juden (d.h. fünfmal so viele wie im Deutschen Reich) vorgefunden. Gleich nach der Besetzung des Landes im September 1939 begannen sich Ghettos auszubreiten, die schließlich zum Symbol für jüdisches Leben während des Holocausts werden sollten.
Über die Ursachen für die Entstehung von Ghettos in den besetzten Ländern ist bislang kaum geforscht worden. Warum griffen die Nationalsozialisten auf die historische Bezeichnung „Ghetto“ zurück? Warum nahm sie in der Verwaltungspraxis der Deutschen höchst unterschiedliche Bedeutungen an? Wie veränderte sich die Bezeichnung während des Holocausts, und welche Funktionen hatten die Ghettos? Warum blieb das Phänomen nahezu ausschließlich auf Ost(mittel)europa begrenzt?
Der Autor zeigt, dass die von den Nazis errichteten Ghettos eine Reaktion auf die Wahrnehmung der polnischen Juden als besondere Gefahr („schädlicher Einfluss“, „Pestbeulen“) gewesen ist, die man durch Absonderung „einzudämmen“ trachtete. Die Ghettos waren das Ergebnis der Verinnerlichung extrem antisemitischer Feindbilder als Folge eines „antisemitischen Wahns“ (Michman), der den beflissenen Dienern des NS-Regimes vor Ort geradezu grenzenlose Handlungsspielräume eröffnete. Die neuen Ghettos trugen zur Verschärfung der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ bei und wurden zu Stätten entsetzlichen Leidens und hohen Todesraten. Gleichwohl waren sie – anders, als dies die meisten Historiker bislang angenommen haben –, keine Vorstufe der „Endlösung der Judenfrage“, die ab 1941 Millionen von Juden das Leben kostete.