Anthologiespiele. Den Kanon erfinden
Henrike Schmidt
Das Erfinden von Autorinnen und Autoren ist ein beliebter Spaß der Literatur. Warum aber wird eine ganze Anthologie fingiert? Anthologien gelten als trockene Metagattung, trotz der aus dem Griechischen abgeleiteten Blütenmetaphorik. Sie prägen aber Vorstellungen von National- und ‚Weltliteratur‘, wirken als stille Agenten der Kanonbildung.
Fiktive Anthologien versammeln imaginäre Autorinnen und Autoren und ordnen die von ihnen vorgeblich verfassten Texte nach Epochen oder Gattungen. Der ‚wahre‘ Autor tarnt sich als Herausgeber oder Übersetzer. Solche „Anthologiefiktion“ ist ein doppelbödiges Spiel mit Grundfragen der Literatur: Autorschaft, Fiktion, Kanon. Sie ist eine Form der Metaliteratur, die Ordnungsprinzipien hinterfragt, vergleichbar der Lexikonliteratur. Sie ist Machtkritik, denn sie erfindet einfach, was vorgeblich fehlt. Ihre anthologisch inventarisierten literarischen Felder bilden alternative Karten der europäischen und der ‚Weltliteratur‘.
Der Auftakt zu den „Anthologiespielen“ wird in der bulgarischen Literatur gesetzt, im Sinn transnationaler Literaturwissenschaft, die Zentrum und Peripherie unterläuft. Von dort folgt die Studie exemplarischen Verflechtungen durch Romantik, Symbolismus, Postmoderne und mündet in einen ‚illegitimen Vergleich‘ mit der brasilianischen Moderne.