Autoren Biografie
»Geograph, * 30.8.1844 Karlsruhe, † 9.8.1904 Ammerland/Starnberger See. (evangelisch)
R. absolvierte eine Apothekerlehre in Eichtersheim (Kraichgau) und studierte seit 1866 Naturwissenschaften in Karlsruhe und Heidelberg, wo er 1868 bei Heinrich Alexander Pagenstecher promoviert wurde (Btrr. z. anatom. u. systemat. Kenntniss d. Oligochaeten). Danach unternahm er zunächst privat, dann als Reisekorrespondent der ›Kölnischen Zeitung‹ zahlreiche Forschungsreisen in die Alpen und den Mittelmeerraum (Wandertage e. Naturforschers, 1873/74), unterbrochen durch die Teilnahme am Dt.-Franz. Krieg 1870/71. 1873–75 bereiste R. die USA, Mexiko und Kuba und berichtete darüber in mehreren Publikationen (Die chines. Auswanderung, Ein Btr. z. Kultur- u. Handelsgeogr., Habil.schr., 1876; Städte- u. Culturbilder aus Nordamerika, 1876; Aus Mexico, Reiseskizzen 1874 u. 1875, 1878; Die Vereinigten Staaten v. Nord-Amerika, 2 Bde., 1878/80).
1876 wurde R. ao. und 1880 o. Professor für Geographie an der TH München, leitete die Zeitschrift ›Das Ausland‹ (1882–84) und organisierte den IV. Dt. Geographentag 1884 in München. In seiner von Moritz Wagner angeregten ›Anthropo-Geographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte I‹ (1882, 1899) wie in seinem grundlegenden Werk ›Völkerkunde‹ (3 Bde., 1885–88, 1894/95) konstatierte er eine ›Abhängigkeit der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit von den Naturbedingungen ihres Bodens, des Klimas, der Pflanzen- und Tierwelt‹ und versuchte, diese Zusammenhänge zu beweisen. R. sah die Erde und ihre Lebensformen als Ganzheit, die er ›hologäische Erdauffassung‹ nannte. Die daraus entwickelte ›Politische Geographie‹ (1897, 1903) trug zum Verständnis und zur Beurteilung historischer und politischer Verhältnisse und Entwicklungen bei.
1886 wurde R. als Nachfolger Ferdinand v. Richthofens nach Leipzig berufen, wo er bis zu seinem Tod wirkte. Sein Lehr- und Forschungsspektrum umfaßte die physische Geographie, die Bio- und Anthropogeographie, Verkehrs- und Wirtschaftsgeographie, Länder- und Völkerkunde, die Politische Geographie sowie die Methodik und Geschichte der Geographie, der Naturphilosophie und der Natur- und Landschaftsschilderung. R. war ein glänzender akademischer Lehrer und großer Förderer der Leipziger und dt. Hochschulgeographie. Seit 1882 gab er die Reihe ›Bibliothek geographischer Handbücher‹ heraus. In ›Die Erde und das Leben, Eine vergleichende Erdkunde‹ (2 Bde., 1901/02) versuchte er eine Gesamtschau der Mensch-Tier-Pflanzen-Bereiche im Sinne einer übergreifenden ›Allgemeinen Biogeographie‹, deren geplante und weit gediehene größere Darstellung er nicht mehr realisieren konnte. Seine Haltung zum Darwinismus reichte im Laufe seines Lebens von positiver Aufnahme über Zweifel bis zur Ablehnung. In geistiger Nachfolge Alexander v. Humboldts untersuchte R. naturästhetische Begriffe wie Landschaftsmalerei und Naturschilderung auf ihre Inhalte; Fernblick, Naturgenuß, Naturauffassung und Naturverständnis aus dem Reichtum der Beobachtungsfülle und der Wirkung der Werke Jean Pauls und Adalbert Stifters sind u.a. Themen, die er in ›Über Naturschilderung‹ (1904) unter der Prämisse ›Wissenschaft genügt nicht, um die Sprache der Natur zu verstehen‹, zusammenfaßte. R. begründete eine Schule des (bio-) geographischen bzw. des Umweltdenkens und führte den Begriff ›Umwelt‹ noch vor den Biologen seit 1899 in die Wissenschaftssprache ein. Neben seinen zahlreichen Schülern, darunter Hans Helmolt, Christian Grüber und Eugen Oberhummer, wirkte er auch auf ausländische Forscher wie Paul Vidal de la Blache, Jean Brunhes und Ellen Semple.
Zu R.s wissenschaftlicher Tätigkeit gehörte auch die Biographik. Von ihm stammen ca. 150 Beiträge für die ADB; er war Mitarbeiter bei den von Anton Bettelheim herausgegebenen ›Biographischen Blättern‹ und deren Fortsetzung ›Biographisches Jahrbuch und Dt. Nekrolog.‹
Angesichts eines gewaltigen schriftlichen Werkes (1300 Einzeltitel) und des überwiegend unbearbeiteten Nachlasses wurde R. nach 1945 von Geographen wie Historikern teils fahrlässig, teils tendenziös interpretiert, bes. im Hinblick auf seine weit über das rein Geowissenschaftliche hinausreichenden politischen Stellungnahmen. Neuere, auf sorgfältigen Analysen wesentlicher Teile seines Gesamtwerkes beruhende Untersuchungen, etwa von Mark Bassin und André-Louis Sanguin, ergeben ein objektiveres Bild. Übersetzungs- und Interpretationsfehler wurden korrigiert, sein kontrovers diskutierter Geodeterminismus als ökologisches Wechselwirkungsdenken gedeutet, die Beziehungen geopolitischer Doktrinen zum Nationalsozialismus neu analysiert und seinem philosophischen wie theologischen Denken mehr Berücksichtigung eingeräumt.«
Müller, Gerhard H., in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 186–188