António Vieira: Briefe aus Brasilien
Johann Pögl
Für den Literaturhistoriker sind es zumeist die Predigten des portugiesischen Jesuiten und Missionars António Vieira (1608-1697), die dessen Werk einen festen Platz im Kanon der portugiesisch-brasilianischen Literatur sichern. Darüber wird oft vergessen, dass Vieira auch ein umfangreiches epistolografisches Werk hinterlassen hat, das, zusammen mit seinen religiös-prophetischen Schriften, als eines der Paradigmata der portugiesischen Prosa galt und selbst heute noch als eines ihrer besten Norm stiftenden Modelle betrachtet wird. In diesem Band wird nun erstmals eine Auswahl von Brieftexten aus Vieiras Feder in deutscher Übersetzung präsentiert. Mit ihr soll zuallererst die Bedeutung des Autors als Literat dokumentiert werden. Aber der Pater begegnet dem Leser darin auch als der ‚politische’ Jesuit, der auf die zeitgenössische portugiesische Kolonialpolitik in Brasilien und auf das Schicksal der brasilianischen Ureinwohner entscheidenden Einfluss genommen hat. Mit der vom Herausgeber getroffenen Beschränkung des Textsortiments auf Briefe, die Vieira während seines langjährigen Aufenthaltes in Brasilien als Leiter der Jesuitenmissionen von Maranhão, Pará und Bahia verfasste, werden jene Lebensperioden und jene Tätigkeitsbereiche des Paters ins Bild gerückt, die seine historische Bedeutung als scheinbar kompromissloser Kritiker des portugiesischen Kolonialismus und der dieses System erst ermöglichenden Sklaverei begründeten. Dem Leser dieser Briefe tritt dann aber ein Autor entgegen, der, überraschenderweise, gerade in der Sklavenfrage eine durchaus ambivalente Haltung einnahm. Und er erfährt aus Vieiras Korrespondenz, dass sich der Jesuitenpater bei der Bewältigung seiner Aufgaben als Missionar und Beschützer der von Sklaverei und Ausrottung bedrohten Indios von religiösen Phantastereien ebenso leiten ließ, wie er den Problemen als pragmatisch denkender und handelnder Realist zu begegnen suchte.