AugenSinn
Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau
Gabriele Reiterer
Camillo Sittes 1889 erschienenes Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen „wirkte wie eine Initialladung auf eine vorbereitete Mine; der Erfolg war ein ungeheurer – überall wurde das Thema aufgegriffen“, schreibt der Otto Wagner-Schüler Leopold Bauer 1923. Diese Würdigung ist insofern von Bedeutung, als Sitte und Wagner zeitlebens als Antipoden galten. Das Buch Sittes war tatsächlich der erste Bestseller des Städtebaues und erlebte zahllose Auflagen. Dieses Buch, weniger seine praktische Tätigkeit, begründet den Ruhm Camillo Sittes. Dennoch dürfte die Schrift heute in einem Ranking der ungelesenen Klassiker weit oben rangieren. Sittes weitreichende theoretische Grundlagen und seine praktischen Studien zu Architektur und Städtebau sind zudem längst in Vergessenheit geraten.
Die Architekturhistorikerin Gabriele Reiterer führt nun in einem prägnanten Essay in die Gedankenwelt Sittes. Ihr gelingt dabei weit mehr als eine Darstellung seiner theoretischen Arbeiten – vielmehr eine geistesgeschichtliche Studie von höchstem Wert. Sie analysiert die wissenschaftlichen und wahrnehmungspsychologischen Ansätze seiner Lehre und führt sie unter anderem auf die Arbeiten von Gustav Theodor Fechner und Hermann von Helmholtz zurück. So groß der Erfolg Sittes war, so heftig polemisierten schließlich Vertreter der avantgardistischen Moderne, wie etwa Le Corbusier oder Siegfried Giedion, gegen ihn.
Gabriele Reiterer gelingt ein präziser Blick auf die geistige Welt von Camillo Sitte. Sein Städtebau wird damit gänzlich neu lesbar!