‚Ave praeclara maris stella‘
Poetische und liturgische Transformationen der Mariensequenz im deutschen Mittelalter
Eva Rothenberger
Die Studie widmet sich den volkssprachlichen Versübertragungen der Mariensequenz Ave praeclara maris stella Hermanns von Reichenau. Die Texte werden vollständig in Neueditionen oder Ersteditionen nach der Gesamtüberlieferung vorgelegt und erscheinen überwiegend erstmals im Druck. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der Transformationsbegriff, der translationswissenschaftlich (Skopostheorie), poetologisch (Hypertextualität) und kulturwissenschaftlich Anwendung findet. Ausgehend von der jeweiligen (formal-stilistischen, semantischen) Äquivalenzrelation zwischen lateinischer Vorlage und volkssprachlicher Übertragung, wird das poetische Profil der volkssprachlichen Texte auf der Grundlage der Hypertextualitätstheorie Gérard Genettes erfasst und die Übertragungen systematisiert. Neben der stilistischen Ebene spielt im Transformationsprozess das Marienbild der lateinischen Sequenz eine wichtige Rolle, das im Wesentlichen auf der Vorstellung der Maria mediatrix beruht und das in der Volkssprache zum Teil erheblich modifiziert wird: Marias Verhältnis zur Trinität, ihre heilsgeschichtliche Funktion und die Frage, ob sie in die Nähe oder in Distanz zu den Menschen gesetzt wird, unterscheiden sich teils markant von der lateinischen Sequenz. Möglichen Gebrauchszusammenhängen und der Frage nach der jeweiligen Liturgizität der volkssprachlichen Texte wird textimmanent sowie anhand der Überlieferungskontexte nachgegangen. Die Studie versucht am Beispiel des Ave praeclara die Facetten des Übertragungsprozesses im Wechselspiel von Liturgie und Volkssprache abzubilden und mit Hilfe der entwickelten Systematik Anknüpfungspunkte für die mediävistische Übersetzungsforschung zu bieten.