Berggasse 19
Armin Kratzert
Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
Das ist der Anfang eines berühmten Textes von Franz Kafka.
Es ist auch der erste Satz dieses Romans. Eines Romans, der den Moment erfindet, da Franz Kafka begann, den ‚Prozess’ zu schreiben. Der den Prager Versicherungsangestellten und Schriftsteller nach Wien versetzt, wo er sich in der Berggasse 19 über Sigmund Freuds Wohnung und Praxis eingemietet hätte? Kafka hat Wien gelegentlich besucht, aber nie dort gelebt, schon gar nicht im Haus von Sigmund Freud. Kafka und Freud sind sich also nie begegnet.
Worüber hätten Kafka und Freud, zwei der Erfinder der sogenannten Moderne und nun Nachbarn in der Berggasse 19, wohl geredet, wenn sie sich wirklich begegnet wären? Über das Wetter in Wien? Eine Premiere im Burgtheater? Über den bevorstehenden Krieg?
Wie wäre es Franz Kafka, der sein Leben lang in Prag gewohnt und dort auch die Anstellung bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung nie aufgegeben hat, in Wien ergangen, in der glanzvollen Hauptstadt des Kaiserreichs, ohne die Freunde, die Familie, den Vater? Wie hätte er sich gefühlt als freier Schriftsteller?
Wie ging Kafka mit all den Zumutungen um, die das Leben für ihn bereithielt? Dem Alltag, der Krankheit, der Liebe, die sich zu einer Josefine einschleicht – und dem heraufziehenden Ersten Weltkrieg?
Und bei all dem: Wie schrieb Franz Kafka? Wie fühlte er sich dabei? Was tat er, wenn ihm nichts einfiel? Wie dachte er?
Die Welt taumelte ins 20. Jahrhundert, in diesem Sommer 1914, Sigmund Freud betrieb seine Praxis, und Franz Kafka schrieb ein Buch, in der Berggasse 19.