Briefe, die ins Zuchthaus führten
Orwells 1984 und die Stasi. DDR-Erinnerungen 1948-1961
Baldur Haase
George Orwell ließ grüßen
20. März 1959: Vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Gera muß sich der neunzehnjährige Baldur Haase verantworten. Er ist angeklagt, die DDR durch „staatsgefährdende Propaganda und Hetze“ angegriffen zu haben, indem er sich den Orwell-Roman „1984“ aus Westdeutschland besorgte, ihn las und weiterverbreitete. Der Angeklagte wird zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt.
Zuvor muß er während seiner zehnwöchigen Untersuchungshaft fast täglich die Stasi-Verhöre erdulden. Eingesperrt in eine winzige Zelle ohne sanitäre Einrichtungen und eingeschüchtert durch Drohungen und psychischen Druck, unterschreibt Haase Wunsch-Geständnisse, die sein Strafmaß erheblich erhöhen werden.
Haases Geschichte beginnt im Jahr 1948, als er mit Eltern und Schwester aus Böhmen nach Thüringen gelangt. Die Heimatvertriebenen bauen sich in der DDR eine neue Existenz auf. Seine Schulzeit empfindet er als freizügig, politischen Drill ist er gewöhnt. Doch zunehmend sieht er das DDR-Regime kritischer. Durch Besuche im Westen wird er in der Meinung bestärkt, der DDR-Staat kontrolliere und unterdrücke seine Bürger.
Während seiner Lehrzeit als Offsetdrucker nimmt er an einem Deutschlandtreffen der Arbeiterjugend in Erfurt teil. Dabei lernt er einen Jugendlichen aus Duisburg kennen. Bald entsteht ein reger Briefwechsel. In seinen Briefen macht er kein Hehl aus seiner negativen Einstellung zur DDR. Er ahnt nicht, daß bereits sein gesamter Postverkehr überwacht wird. Noch weniger kann er sich vorstellen, daß sein Schwager ihn bespitzelt, und Berichte an die Stasi liefert. Der bleibt auch nicht verborgen, daß sich inzwischen Orwells Roman „1984“ in seinem Besitz befindet. Beim Vergleich der realen DDR-Verhältnisse mit Orwells Schilderungen im Buch wird sich Haase immer mehr der Unfreiheit bewusst, in der er lebt. Das Buch wird sein Verhängnis, in der DDR ist es als staatsfeindliches Hetzwerk eingestuft.
Inzwischen fühlt sich Baldur Haase als heimlicher Widerstandskämpfer. Als ihn die Ahnung beschleicht, er könnte überwacht werden, hält er sich mit kritischen Äußerungen in seinen Briefen zurück. Da ist es bereits zu spät, am 13. Januar 1959 wird er in Leipzig verhaftet.
Erst im Zuchthaus Waldheim erfährt Haase von Mithäftlingen das ganze Ausmaß der Überwachung des DDR-Staates. Aufgrund von Bemühungen seiner Eltern wird Baldur Haase nach zwei Jahren vorzeitig entlassen. Er beginnt ein neues Leben, angepasst und psychisch gebrochen. Bis zum Mauerfall dient er dem Staat ergeben im Kulturbereich.
Sachlich und selbstkritisch erzählt der Autor sein Schicksal, das hier stellvertretend für viele politisch Verfolgte des DDR-Regimes steht. Das Buch arbeitet ein dunkles Kapitel der Geschichte der DDR auf. Die Erinnerungen werden von vielen Fotos des Autors und von Stasi-Dokumenten aus seiner persönlichen Akte angereichert.