Chinesischer Karneval
Mit Bachtin das zeitgenössische Schauspiel lesen
Yangyang Yu
Als Gast beim hundertjährigen Geburtstagsfest des chinesischen Schauspiels, im Jahr 2007, erfuhr ich von der Größe, der fachlichen Perfektion, der Ideologie sowie des ästhetischen Anspruchs des sogenannten mainstream-Theaters. Doch ziehen mich gleichermaßen dramatische Stücke abseits des mainstreams an, wie etwa Das Klo, Der Studiousus und der Henker sowie Das Krematorium. Diese heben sich mit deutlich tabubehafteten, düsteren und blutigen Elementen von der im mainstream-Theater verbreiteten Perfektion und Noblesse ab und handeln den dort verbreiteten Idealen gänzlich zuwider. Dieser Kontrast verdeutlicht das Schlüsselelement der vorliegenden Studie – das Groteske. Anhand der theoretischen Grundlagen von Michail Bachtin, der Theorie der Karnevalisierung, werden erstmals in einer deutschsprachige Studie groteske Erscheinungsformen in ausgewählten chinesischen Theatertexten analysiert und interpretiert. Durch das Studium des Grotesken in historischen Formen von Kunst, Literatur und dem traditionellen Gesang-Rezitation-Tanz-Akrobatik-Theater wird zuerst ein Kompendium zum entsprechenden Thema geschaffen, das als Grundlage für die weitere Erforschung des zeitgenössischen Schauspiels dient. Im Rahmen der Diskussion der Dramen finden vier Aspekte eine besondere Betrachtung: Groteske Gestaltungselemente, grotesker Charakter, groteske Sprache und Ästhetik sowie ideologische Konnotationen. In den besprochenen Theaterstücken koexistiert ein gespaltenes und miteinander verflochtenes Gefühl von Tragödie und Komödie, hier gleichen sich Licht und Dunkelheit, Glauben und Zweifel, Körper und Seele in bemerkenswerter Weise aus.