Chronische Alkoholkrankheit und der Modality Shift Effect
Rainer Ridlhammer
In einer umfangreichen Studie mit 390 Versuchpersonen wird an fünf klinischen und einer Kontrollgruppe in einem quasiexperimentellen Kontrollgruppendesign gezeigt, dass sich – entgegen bisheriger Befunde – bei alkoholkranken Patienten deutlicher Modality Shift Effect (nach Zubin) als spezifisches Aufmerksamkeitsdefizit nachweisen lässt. Die gefundenen Defizite bei akut Alkoholkranken sind mit entsprechenden Defiziten bei schizophrenen Patienten in der Effektausprägung identisch. Bei abstinenten Alkoholkranken (zwei Monate), die noch nicht ein depraviertes Stadium erreicht haben konnte der Effekt nicht mehr nachgewiesen werden. Dieser Hinweis auf die Reversibilität dieses Aufmerksamkeitsdefizits bei alkoholkranken Patienten korrespondiert mit neuroanatomischen Restitutionsbefunden aus der neueren Alkoholismusforschung. Methodisch wird der Modality- Shift-Quotient als neues Berechnungs- und Darstellungsverfahren der crossmodalen Retardierung entwickelt, um eine reaktionszeitunabhängigere und reliablere Vergleichsgröße einzuführen. Auf der Basis neuroanatomischer- neurochemischer Parallelen zwischen der chronischen Alkoholkrankheit und der Schizophrenie wird eine Funktionsstörung der Basalganglien als potentielle Generatoren für die beobachteten Aufmerksamkeitsdefizite diskutiert. Es wird ein Erklärungsmodell für den MSE vorgeschlagen, das über das zubinsche Spurenmodell hinausgeht und den Effekt in umfassendere Aufmerksamkeitsmodelle einbindet. Die Relevanz der Studie liegt in der Identifizierung eines neuropsychologischen Markers, der sich in einem Zeitrahmen verbessert, in dem auch deutliche neuroanatomische Volumen- und Dichteänderungen bei abstinenten Alkoholkranken auftreten. Über diesen Weg ergeben sich neue Erforschungsmöglichkeiten von Aufmerksamkeitsstörungen. In der akuten Phase der Alkoholkrankheit kann die Effektausprägung bestimmt und deren Veränderung unter Abstinenzbedingung dokumentiert werden. Aus neuroanatomisch- und funktionell begründeten Aufmerksamkeitsmodellen lassen sich für die Untersuchung mit darstellenden Verfahren exakter kortikale Regionen bestimmen, die in einem sinnvollen Zusammenhang mit der beobachteten Funktionsänderung stehen. Die neuropsychologische Untersuchung kortikaler Substanzänderungen kann dadurch verbessert werden.