Das „Buch von den Neun Felsen“
Überlieferung und Textgeschichte mit einer kritischen Edition der oberdeutschen Kurzfassung
Claudia Lingscheid
Das Neunfelsenbuch ist eines der meistverbreiteten Werke der oberrheinischen Mystik. Zwar wird Rulman Merswin (†1382) die längere von zwei überlieferten Fassungen zugeschrieben, doch herrschen Zweifel bezüglich der Originalform. War Merswin der Autor, oder nur Bearbeiter einer früheren Vorlage? Kernstück dieser grundlegenden Studie ist der Text der oberdeutschen Kurzfassung, der hier erstmals in einer kritischen Edition vorliegt und das Neunfelsenbuch des 15. Jahrhunderts in seiner populärsten Form repräsentiert. Die textkritischen Befunde aus dem Apparat bilden die Grundlage dieser Neubewertung des Verhältnisses beider Fassungen. Neben einem Überblick über die erhaltenen Textzeugen erhellt die Studie die Überlieferungsgeschichte und beleuchtet inhaltliche Parallelen zu Werken Taulers und Seuses. Wenn letztlich die Langfassung als Urform identifiziert wird, so mindert dies nicht die Bedeutung der Kurzfassung. An ihr zeigt sich beispielhaft, wie ein Werk in seiner bearbeiteten Form eine größere Verbreitung erfuhr als das Original. Mit Merswins Autorschaft steht das Neunfelsenbuch am Anfang der literarischen Produktion aus dem Straßburger Kloster Grüner Wörth, einem damals bedeutenden Zentrum geistlicher volksprachiger Literatur.