Das Ende des Konsums
Wenn Daten den Handel überflüssig machen
David Bosshart, Stephan Fetsch, Karin Frick, Holger Wildgrube
WIE DATEN DEN HANDEL PULVERISIEREN. UND WER DABEI ERFOLG HABEN WIRD
«Banking is necessary. Banks are not.» Was Bill Gates 1994 der Finanzindustrie voraussagte, wird 25 Jahre später auch im Handel zum Thema.
In den nächsten drei Jahrzehnten wird von dem, was wir heute als Produkte, als Laden und als Handel kennen, nicht mehr viel übrig sein. Menschen werden zwar weiterhin physische Grundbedürfnisse haben, die durch Waren befriedigt werden. Doch die Art, wie Begehrlichkeit für diese Waren geweckt, durch welche Lieferkette sie geschleust werden und wie sie zum Konsumenten gelangen, verändert sich grundlegend.
Sich die Zukunft des Handels als eine lineare Zunahme des Online-Handels vorzustellen, dem eine gewisse Anzahl konventioneller Läden zum Opfer fällt und der somit das herkömmliche Immobilienmodell gefährden könnte, greift viel zu kurz. Im Raum stehen Entwicklungen, die den Handel pulverisieren werden. Angetrieben wird diese Umwälzung von
der Macht der Daten, vom Internet of Things (IoT) sowie von Disziplinen, die man heute noch weniger auf dem Feld des klassischen Retails vermuten würde: künstliche Intelligenz und Neurotechnologie, Mixed Reality und neuartige Raumerlebnisse.
VOM DREAM-TEAM ZUM STREAM-TEAM
Wie sich der vertraute Warenfluss des einstigen Dream-Teams Produktion–Handel–Konsument verändern wird, lässt sich beispielhaft an der Musikindustrie ablesen. Nicht mehr jeder Nutzer besitzt seinen eigenen Tonträger, vielmehr sind über die Streaming-Technologie alle Produkte jederzeit für alle verfügbar. Die Funktion des Handels wurde dabei nahezu
ausgelöscht. Die «Spotifyisierung» einer ganzen Branche lässt erahnen, dass sich das Muster auf andere Bereiche übertragen lässt. Zumal die Konsumenten, zumindest in den westlichen Gesellschaften, im Warenüberfluss leben.
Im Zeitalter des «Peak Stuff» werden wir vermehrt den Shift vom Besitzen zum Benutzen sehen: Zugang zu intelligenten Services und immersiven Erlebnissen zu tiefen Preisen.
Gleichzeitig werden wir von Produkten, Dienstleistungen und Infrastrukturen umgeben sein, die im Internet of Anything (IoAT) miteinander kommunizieren, ohne dass wir es auch nur bemerken. Immer leistungsfähigere Systeme, unterstützt durch die Möglichkeiten von 5G, führen dazu, dass sich Technologien wie der 3D-Druck in der Fläche durchsetzen. Dies in einer Art, die den «Prosumer» zur Realität werden lassen: den Konsumenten, der Güter nicht nur verbraucht, sondern sie selber ersinnt, produziert und vermarktet.
DER KOPF ALS GAME CHANGER: WENN DAS HIRN ZUM POINT OF SALE WIRD
Auf eine ganz neue Art in die Gänge kommt diese Entwicklung durch die Neurotechnologie. Die heutigen Krücken des Internets – Mobiltelefone, Tablets, Voice-Assistenten – verflüchtigen sich. Im Zeitalter der grossen Verknüpfung werden die meisten Menschen eine direkte, kabellose Hirn-Computer-Schnittstelle aufweisen. Damit verschränken sich die reale und die virtuelle Welt des Konsums in einer Art, in der sich digitale Produkte nach unseren Wünschen konfigurieren lassen.
Wenn sich die Produktion der Konsumgüter aus der physischen Fabrik in die Traumfabrik der Menschen verlagert, wandert die Ladentheke in die Köpfe der Menschen. Das Hirn wird zum Point of Sale. Dies wird neue Geschäftsfelder und -modelle schaffen. Dabei wird es sich um gänzlich neue Märkte aus den Bereichen synthetische Erfahrungen, Erinnerungen und Träume handeln, aus Bereichen wie Unterhaltung und Spiele, Bildung, Lernen, Kunst und Liebe.
DATENREICHTUM ALS STRATEGISCHE ERFOLGSPOSITION
Ein wichtiger Grundstein des radikalen Wandels ist die exponentielle Steigerung der Rechenleistung, gekoppelt mit Innovationen in der Hardware. Wenn es uns gelingt, mit den wachsenden Datenmengen und den technologischen Entdeckungen klug umzugehen, werden wir im Überfluss eines neuen Reichtums ankommen: im Datenreichtum.
Wer hingegen nicht in der Lage ist, aus Daten entsprechend Kapital zu schlagen und sich weiterzuentwickeln, wird eine neue Form der Armut erleben: Datenarmut. Damit verbunden ist die Gefahr, die Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Denn die Kostenstrukturen der industriellen Welt werden mit dem noch möglichen Umsatzpotenzial nicht mehr finanzierbar sein.
Momentan befinden wir uns am Anfang einer Transformationsphase, die zur Entortung des Konsums führen wird. Die Länge dieser Phase ist schwer abschätzbar. Was klar ist: Die Veränderungen auf diesem Gebiet werden nie mehr so langsam geschehen wie in den letzten 25 Jahren. Wie der Kern der Finanzindustrie zu FinTech mutiert, wird das Handelsunternehmen der Zukunft zuerst ein Technologieunternehmen, das auch noch Handel betreibt. Vervollständigen Sie bitte diesen Satz: «Retailing is necessary …»