DER ESSENTIELLE MARCEL PROUST
DIE 'RECHERCHE' IN EINEM LESBAREN MODUS (Teil II)
Gerhard Willke
Ziel dieser zweibändigen Darstellung meiner Lektüreerfahrungen mit Marcel Prousts ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ ist es, den Zugang zu einem der wichtigsten und schönsten Romane der Weltliteratur zu erleichtern — und Lust darauf machen, sich so gerüstet und zu gegebener Zeit dem originalen Text selbst zuzuwenden, der inzwischen in schönen neuen beziehungsweise revidierten Übersetzungen vorliegt.
Der vorliegende zweite Teil umfasst die Bände IV bis VII der siebenbändigen deutschen Ausgabe. Im Zentrum steht das Drama von MARCEL und ALBERTINE — das Drama einer anfangs bangen, dann zunehmend von Eifersucht und Misstrauen geprägten einseitigen, weil unerwiderten Liebe. Alleweil bleibt offen, ob ALBERTINE ihren Freund MARCEL wirklich liebt, oder ob sie gar mehr an Frauen als an Männern interessiert ist. Offen bleibt aber auch, ob MARCEL wirklich liebt, oder ob er nur immer in seinem kindlichen Narzissmus befangene bleibt und “sich keine Empathie-Arbeit macht“ (Doris Anselm). Seine besitzergreifende Liebe, diese Erfahrung muss MARCEL machen, bleibt auch dann unerfüllt, wenn er seinen ‚Besitz‘ bei sich wie einen Vogel im Käfig gefangen hält, denn eine Gefangene kann entfliehen. Genau das tut ALBERTINE, und es führt zu keinem guten Ende.
Die Dramen um die ‚Gefangene‘ und die ‚Geflüchtete‘ mit ihren heftigen Gefühlsschwankungen zwischen Liebesverlangen und Eifersuchtsschmerzen, zwischen Trennungsängsten und Trennungswünschen — diese Dramen werden eingerahmt von den beiden Bänden ‚Sodom und Gomorra‘ (Band IV) und ‚Die wiedergefundene Zeit‘ (dem abschließenden Band VII). In ‚Sodom und Gomorra‘ thematisiert PROUST die Inversion, also die Homosexualität (übrigens beider Geschlechter) als Eigentümlichkeiten und Leiden einer “Rasse, auf der ein Fluch liegt“. In vielen “Kreisbewegungen der Narration“ (Angelika Corbineau-Hoffmann) beschreibt der Autor die auch bei Invertierten wiederkehrenden Wechsel von Zutrauen und Misstrauen in asymmetrischen Liebesbeziehungen. Aber für alle Formen der Liebe gilt, was der Autor in einem Nebensatz versteckt: “l’amour, qui seul est divin“.
In der ‚Wiedergefundenen Zeit‘ hat der Autor das Erweckungserlebnis, das ihn davon überzeugt, dass er doch, gegen alle früheren Bedenken, zum Schriftsteller berufen ist. Er weiß jetzt, dass er das gewaltige Gebäude seiner Erinnerungen, d.h. sein Leben, in diesem Roman zur ‚Aufbewahrung und Mitteilung‘ bringen kann, um so Erlösung zu finden und seine Amfortas-Wunde zu schließen.