Der „Gedächtnisort“ Roman
Zur Literarisierung von Familiengedächtnis und Zeitgeschichte im Werk Jean Rouauds
Corinna Dehne
Wie sieht ein literarischer Gedächtnisort aus? In seinem zwischen 1990 und 1999 veröffentlichten fünfbändigen Romanwerk erzählt der französische Autor Jean Rouaud seine Familiengeschichte. Vom Ersten Weltkrieg bis in die 90er Jahre reichend, verschränkt das Porträt die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Gedächtnis der Großeltern, Eltern und nahen Angehörigen sowie autobiographischen Kindheitserinnerungen zu einem romanesken ‘Ort’ persönlicher Gedächtnisarbeit. Die Autorin fragt nach den Gestaltungsbedingungen eines solchen Projekts: In welchem gattungs- und erzähltheoretischen, in welchem literaturgeschichtlichen Umfeld bewegt sich ein Romanschreiben, das an zwei ganz unterschiedliche Darstellungstraditionen anschließt, die des Erzählens von Erinnerung bzw. Gedächtnis und von Geschichte?
Rouaud und seine Zeitgenossen repräsentieren nicht nur eine nachgeborene Schriftstellergeneration, sie setzen auch nachgeborene Erzähler ein. Anders als die autobiographische Erzählung hat sich der Gedächtnistext mit der Vergegenwärtigung nicht miterlebter Tragödien auseinanderzusetzen. Das Romanwerk als Ort der Aufbewahrung knüpft damit nicht nur an eine Tradition an, in der sich die Poesie der Erinnerung als literarhistorischer Topos verfolgen läßt, es situiert sich zugleich inmitten der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion künstlerischer Gedächtnisarbeit.