Der Raub der Proserpina
Kultur- und Geschlechtergeschichte einer mythischen Figur
Julia Klebs
Die Faszination antiker Mythen hält bis heute ungebrochen an. Zu diesen Mythen zählt auch Proserpina: Als junges Mädchen wird sie geraubt und in der Unterwelt mit Hades verheiratet. Handelt es sich dabei um eine legitime antike Heiratspraxis oder wird Proserpina gegen ihren Willen verschleppt und vergewaltigt? Demeter, die Mutter des Mädchens, sucht nach der Tochter, streikt und schickt den Menschen eine existenzbedrohende Hungersnot, womit sie die partielle Rückgabe der Tochter erzwingt. Proserpina pendelt fortan im jahreszeitlichen Rhythmus zwischen Ober- und Unterwelt. Proserpinageschichten weisen eine hohe Ambivalenz auf – zwischen Raub und Liebe, Jungfräulichkeit und Initiation einer erwachsenen Frau, Tod und Leben. Sie erzählen von der im Mythos selten thematisierten Beziehung zwischen Mutter und Tochter und von Erfahrungen, die im Umgang mit Naturkräften erarbeitet und gesammelt wurden. Der Mythos vom Raub der Proserpina existiert seit der griechisch-römischen Antike in vielfältigen Varianten und Transformationen. Je nach Zeit und Kontext erzählt er von der Verheiratung, der Vergewaltigung und dem Verlust der Jungfräulichkeit einer jungen Frau, von einer sich verändernden Mutter-Tochter-Beziehung und von deren Verknüpfung mit dem Erntezyklus. Dem Mythos wird so eine spezifische Funktion zugewiesen, um konkrete Vorstellungen von Weiblichkeit, Gewalt und Grenzerfahrungen zu transportieren.