Der Wert und das Es
Über Marxismus und Psychoanalyse in Zeiten sexueller Konterrevolution
Uli Krug
Nur eine einzige Parallele läßt sich zwischen Marx und Freud ziehen: Die Denunziation eines übersubjektiven Zwanges, der sich doch nur in subjektivem Handeln auszudrücken vermag. So wie die Kritik der Politischen Ökonomie das kapitale Subjekt als „Charaktermaske“ eines unsichtbaren Zwanges denunziert hatte – in der revolutionären Hoffnung, daß kritischer Begriff vom Subjekt und die kritisierte Subjektivität nicht unmittelbar identisch seien –, so legt die Kritik der seelischen Ökonomie das Zwanghaft-Unbewußte am vorgeblich freien Willen des Individuums bloß – in der therapeutischen Hoffnung, daß seelische Regression ein rückgängig zu machendes je einzelnes Schicksal sei. In dem Maße aber, wie die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals den politischen Zwangscharakter der Subjektivität befestigt, steigt auch das Maß der Zwanghaftigkeit des Subjekts: Äußerlich verliert das Rechtssubjekt die – schon immer limitierte – autonome Kontrolle über sein Schicksal, wird zum Teil der Gefolgschaft des autoritären Staates, innerlich verliert das Ich die – schon immer limitierte – Kontrolle über die unmittelbaren Zwänge des Es: „Für die soziale Realität ist in der Epoche der Konzentrationslager Kastration charakteristischer als Konkurrenz“ (Adorno).
Der Zügellosigkeit der öffentlichen Feindkampagnen wie der Willkür des Staates ist mit der Unterstellung eines kühl berechnenden bürgerlichen Subjekts nicht beizukommen. Überhaupt darf Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, mit dem Antisemitismus, mit Deutschland, den Deutschen und denen, die ihnen nacheifern, nicht so tun, als ob die Wendung von Gesellschaft zu Racket und Rasse im Individuum Kategorien wie Interesse und Bewußtsein in Kraft belassen hätte. In der Rearchaisierung der Gesellschaft rearchaisiert auch das Subjekt. Wo Ich war, wird Ich-Libido, herrscht Es.