Die Ausbildung von Kirchenmusikern in Thüringen 1872–1990
Marco Lemme
Die Kirchenmusik war im 19. und 20. Jahrhundert häufig der Ort, wo Kirche und Welt ganz unmittelbar aufeinandertrafen. Als Teil der Kirche, der weit in die säkulare Gesellschaft hineinreicht, kam der Kirchenmusik auch eine (kirchen-)politische Geltung zu. So genoss das Kirchenmusikwesen als Komponente im öffentlichen Schulwesen und als Teil staatlicher Kulturpflege sowohl im Zeitalter der Säkularisierung als auch während der antikirchlichen Diktaturen des letzten Jahrhunderts einen gewissen Schutz. Auf Seiten der Kirchen entwickelte sie sich zu einem wichtigen Öffentlichkeitsfaktor. Staat wie Kirche diente sie mitunter als „Verhandlungsmasse“. Folglich spiegelt die Kirchenmusik das wechselhafte Verhältnis von Staat und Kirche wider. Besonders gilt dies für das kirchenmusikalische Ausbildungswesen, da in diesem Bereich Staat und Kirche zu allen Zeiten, auch in den Jahren der NS-Diktatur und der DDR, zusammenarbeiteten. Die vorliegende Studie liefert ein erstes Gesamtbild des kirchenmusikalischen Ausbildungswesens in Thüringen im 19. und 20. Jahrhundert, wobei neben künstlerischen Aspekten und Personen auch Struktur und Organisation der Kirchenmusik betrachtet werden. Welche Auswirkungen hatte die Politik der jeweils herrschenden Staatsmacht bzw. die der Kirche auf das kirchenmusikalische Ausbildungswesen? In welchem Verhältnis standen Staat und Kirchenleitungen generell zum Kirchenmusikwesen? Welche Impulse kamen wiederum von Seiten der Kirchenmusik hinsichtlich der öffentlichen Kulturpflege, des kirchlichen Konsolidierungsprozesses nach 1918 oder in Bezug auf die kirchenpolitischen Entwicklungen nach 1933 bzw. 1945?