Die „Deutschland AG“
Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus
Ralf Ahrens, Boris Gehlen, Alfred Reckendrees
Seit Mitte der 1990er Jahre erlebte die Bundesrepublik einen rasanten Auflösungsprozess der Deutschland AG. Der Begriff beschreibt die Verflechtungen zwischen großen Aktiengesellschaften der Industrie, der Banken und der Versicherungen durch gegenseitige Kapitalbeteiligungen, wechselseitige Repräsentanz in Aufsichtsräten und die Finanzierung großer Unternehmen mittels langfristiger Bankkredite. Diese Struktur hat deutsche Großunternehmen mehrere Jahrzehnte gegen „feindliche Übernahmen“ und die internationalen Kapitalmärkte geschützt. Die Politik hat sie durch Gesetze und Vorschriften wie Mehrfach- oder Depot-Stimmrechte, Bilanzierungsvorschriften oder das Steuergesetz abgesichert, bis die Internationalisierung der Finanzmärkte, die Globalisierung der Unternehmen und die Hegemonie neoliberaler Ideologie das institutionelle Arrangement der Deutschland AG als eine Fessel für deutsche Großunternehmen hat erscheinen lassen.
Die Beiträge dieses Bandes fragen nach den Ursprüngen und der Entwicklung der Deutschland AG seit dem 19. Jahrhundert, wobei der Schwerpunkt auf den Strukturveränderungen in 1960er bis 1980er Jahren liegt. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Frage nach der Reichweite und den inneren Funktionsmechanismen des Netzwerks: Welche Ziele verfolgten zentrale Akteure? Dienten die Kapital- und Personalverflechtungen der Einflussnahme auf die Aktivitäten der beteiligten Unternehmen und der übergreifenden Koordinierung der Unternehmensstrategien und des Wettbewerbs?