Die diskrete Scham
Till Briegleb
Die Macht, die die Scham über unser Leben hat, ist gewaltig. Sie berührt unser Liebesempfinden und dirigiert unsere Ängste, sie fesselt unsere Aktivität und Ehrlichkeit, aber befreit auch immer wieder ungeheure Widerstandskräfte, sie feuert unsere Kreativität und Intelligenz an, aber schafft auch verderbliche Mythen.
Scham begegnet uns auf Schritt und Tritt als soziale Kontrolle und fragt ständig nach der Richtigkeit unseres Verhaltens. Kaum ein anderes Gefühl besitzt so vielgestaltige Konsequenzen für unser Sein und Handeln. Till Brieglebs Essay würdigt dieses scheinbar störende und verstörende Gefühl, das uns ständig begleitet, als zivilisatorische Triebkraft, als Quelle für Glück, Erkenntnis und Kultur. Bei allem persönlichen Leid, das die Schamangst erzeugt, ist sie keineswegs nur ein Nachteil der Empfindsamkeit oder eine Unsportlichkeit der Seele. Als permanente Forderung an unsere Selbstwahrnehmung und Störfaktor im großen Harmonie-Schwindel kann sie unsere Sensibilität wachhalten, unsere Intelligenz reizen, unseren Erfindungsreichtum erweitern, aber auch unseren zwischenmenschlichen Umgang von grotesken Hindernissen und nutzlosen Feindseligkeiten befreien.