Die Enteignung der Wahrsager
Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike
Marie Theres Fögen
Im ausgehenden dritten und vierten Jahrhundert nach Christus erscheint eine Serie von Kaisergesetzen, welche nahezu alle Wahrsager, die die römische Welt gekannt und geschätzt hatte, zu vernichten androht. In diesen Gesetzen dokumentieren sich der Bruch mit alten Gewißheiten und der Aufbau neuer Überzeugungen von der Kompetenz und Legitimität der Weltinterpretation. Während die römischen Juristen und Historiker noch lange in der traditionellen Meinung verharrten, die Interpretation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei eine gesetzlich nicht zu regulierende, allein auf individueller Begabung, Wissenschaft und Weisheit basierende Fähigkeit, debattierten heidnische und christliche Großmeister für Weltanschauung, Philosophen, Theologen und gelehrte Literaten, über eine neue Ordnung des göttlichen Willens und menschlichen Wissens. Es entstanden – und hier wurden christliche Autoren federführend – Konzepte, die dazu führen sollten, die Vielzahl von Bewerbern um göttliche Qualitäten auf einen einzigen zu reduzieren, die Unbeherrschbarkeit des freien Willens zu disziplinieren und die Beliebigkeit des Wissens und Wissenwollens zu vermindern. Die Oberhoheit über alles Wissen von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit die Definitionsmacht über das, was »gut und wahr« ist, wurde einem einzigen Gott zugeschrieben. Die Verträglichkeit dieser Monopolisierung des Wissens mit der neuen Beschreibung von kaiserlicher Macht begünstigte die Übernahme dieses Modells in die Politik, welche es in Form von Gesetzen publizierte und durchsetzte: Sowenig wie Gott selbst konnte seine Kopie auf Erden, der allwissende Kaiser, konkurrierende Wahrsager neben sich dulden.