Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten
Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen
Hartmut Westermann
Die Studie untersucht das Spannungsverhältnis zwischen einer Theorie der Interpretation, wie sie sich in den expliziten Ausführungen der Dialogfiguren findet, und der im Medium fingierter Gespräche inszenierten Praxis der Dichterauslegung. Im ersten Teil wird das von Sokrates proklamierte Ideal eines philosophischen Interpreten, der die Intention des Dichters zu erschließen und zu vermitteln versteht, mit zwei Gegenbildern kontrastiert: dem Sophisten, der unter Vernachlässigung der intentio auctoris die eigene intentio lectoris durchsetzt, und dem Enthusiasten, der – seiner Vernunft beraubt – zum göttlichen Sprachrohr wird. Der zweite Teil zeigt, dass es in den Dialogen zwar viele praktische Formen der Dichterauslegung gibt, aber keine, die den theoretischen Vorgaben folgt. Mit Rückschlüssen dieses Befunds auf die Theorie und mit der durch Platons literarisches Selbstverständnis nahegelegten Selbstapplikation der Interpretationstheorie befasst sich der Schluss der Arbeit.