Die Unruhe des Gastes
Zu einer Schwellenfigur in der Moderne
Evi Fountoulakis
Erzählungen werden nicht nur im Rahmen von Begegnungen ausgetauscht, sie handeln auch oft davon, namentlich von der Begegnung zwischen Gast und Gastgeber. Die literarische Darstellung des Gastes und der Gastlichkeit unterliegt jedoch einem historischen Wandel. Im 19. Jahrhundert tritt der Gast bei Autoren wie Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann oder Wilhelm Raabe als Schwellenfigur in Erscheinung: Indem er weder Teil der ihn aufnehmenden Gesellschaft darstellt noch vollends außerhalb derselben steht, verunsichert er sowohl die ihn aufnehmende Gemeinschaft als auch das Individuum, da er als Fremdkörper Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis aufwirft. Dieses labile Verhältnis lässt sich mit Hilfe von – mehr oder weniger expliziten – Konventionen der Gastfreundschaft im Zaume halten, die sich somit als Instrumente der Befriedigung latent feindlicher Gemeinschaften erweisen. In der deutschsprachigen Erzählliteratur der 1920er Jahre weicht das Motiv des privaten Gast-und-Gastgeber-Verhältnisses der unpersönlichen Aufnahme des Gastes, wobei das Hotel zum neuen Schauplatz der Begegnungen wird. Diese literarische Entwicklung wird im zweiten Teil der vorliegenden Studie zum Ausgangspunkt einer literaturtheoretischen Reflexion. Es wird aufgezeigt, dass neben der privaten, körperlichen Begegnung, die gemeinhin als Voraussetzung der Gastfreundschaft verstanden wird, eine weiter gefasste Form der Gastlichkeit existiert. Diese dient als Synonym einer Begegnungsstruktur, die keine leiblich anwesenden Akteure voraussetzt, sondern medial vermittelt werden kann.