Die ,Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi‘
Untersuchung, Überlieferung und Edition
Richard Fasching
Der bislang unerforschte mittelhochdeutsche Traktat ›Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi‹ (VMB) wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Johanniterkommende zum Grünen Wörth in Strassburg verfasst. Er versteht sich als eine an Anfänger im geistlichen Leben gerichtete Anleitung zur rechten Betrachtung der Passion Christi. Für die Vermittlung des aus dem vorbildlichen Leiden Christi gewonnenen Wissens werden unterschiedliche Textstrategien auf je verschiedenen Ebenen inszeniert. Im Anschluss an die Hoheliedstelle Ct 1,12 () wird in einer Binnenerzählung exemplarisch vorgeführt, wie die personifikationsallegorisch als vorbildliche mitliderin Christi gedeutete sponsa aus dem Hohelied anhand von vierzig Myrrhenbüschelchen die einzelnen Leiden Christi visionär schaut. In affektiver Anteilnahme durchleidet die sponsa mit Christus dessen Leiden und erfährt vom verbum Dei den Sinn und Nutzen der einzelnen Leiden. Diese Betrachtungsmethode wiederum lehrt in einem als Rahmenhandlung inszenierten Unterweisungsgespräch ein fiktiver geistlicher Vater seine wissbegierigen geistlichen Kinder und steuert gleichzeitig die ideale Rezeptions- und Adaptationshaltung gegenüber dem Vermittelten. Die zweibändige Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der Untersuchungsteil A zeichnet die Funktion des fasciculus myrrhae-Verses innerhalb der Auslegungstradition nach, in die sich der Traktat VMB nahtlos einreiht, und erschliesst dessen Form und Inhalt sowie die Genese und Geschichte des Textes. In Teil B ermittelt eine Überlieferungsanalyse Gruppenzugehörigkeiten zwischen den bekannten elf Handschriften und den zwei Exemplaren des Inkunabeldrucks der VMB. Danach werden mit genauen Beschreibungen die Textzeugen äusserlich und inhaltlich erschlossen und kontextualisiert, wobei auch die kodexinterne Mitüberlieferung sowie die historische Gebrauchssituation der Textträger dargelegt und ausgewertet werden. Teil C bietet in gut lesbarer Form die Erstedition der VMB nach dem Text des Cod. Sang. 603 der St. Galler Stiftsbibliothek. Ein ausführlicher Lesartenapparat verzeichnet die wichtigsten Varianten der bekannten Überlieferungsträger. Die relativ weite Verbreitung der hauptsächlich im südwestdeutschen Sprachraum sowohl in Frauen- und Männerklöstern unterschiedlicher Ordenszugehörigkeit wie auch in Laienkreisen gelesenen ›Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi‹ belegt einen hohen Beliebtheitsgrad des Traktats, der zwar die bekannte Kombination von Hoheliedexegese und Passionsanleitung konzeptionell aufgreift, diese mittels unterschiedlicher Textstrategien jedoch innovativ weiterentwickelt und auf eine individuelle Adaptation des darin Vermittelten durch die Rezipientinnen und Rezipienten hin öffnet.