Die Volksrepublik China und die ASEAN-Staaten im Streit um die Spratlys
Eine Analyse der Determinanten chinesischer Aussenpolitik gegenüber der Region Südost Asien
Nicole Schulte-Kulkmann
Der Streit um die Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer hat sich zu einem wahren Dauerbrenner in der Region Südostasien entwickelt. Seit der Entdeckung von möglicherweise umfangreichen Erdöl- und Erdgasvorkommen in diesem Gebiet Mitte der 70er Jahre stehen sich die beteiligten Staaten – die Volksrepublik China (und Taiwan) sowie die ASEAN-Mitgliedstaaten Philippinen, Malaysia, Brunei und Vietnam – mit unvereinbaren Gebietsansprüchen gegenüber. Durch eine Eingliederung der Spratlys in ihr jeweiliges Hoheitsgebiet wollen die Anspruchstaaten Zugriff auf die dort vermuteten Ressourcen erlangen. Neben der – angenommenen – wirtschaftlichen Bedeutung der Spratlys sind diese auch in strategischer Hinsicht für die Anspruchstaaten interessant, bedeutete doch eine Kontrolle der Spratlys gleichzeitig auch die Kontrolle über die wichtigen vielbefahrenen militärischen und zivilen Seewege in diesem Teil des Südchinesischen Meeres. Die Arbeit beschäftigt sich mit der Spratly-Frage aus der Perspektive des gewichtigsten Anspruchstaates, der Volksrepublik China, welche das gesamte Südchinesische Meer als ihr Hoheitsgebiet betrachtet und dadurch eine Lösung des Konfliktes massgeblich erschwert. So steht die Frage im Mittelpunkt, welchen Aufschluss das Verhalten der VRCh in der Spratly-Frage über deren aussenpolitische Linie gegenüber der Region im allgemeinen zu geben vermag und welche Rückschlüsse sich daraus in Bezug auf die von der VRCh angestrebte Rolle in der Region nach dem Ende des Kalten Krieges ziehen lassen. Sind die Ängste berechtigt, mit der VRCh wachse ein neuer, revisionistisch gesinnter Akteur heran, der die Hegemonie über Ost- und Südostasien anstrebt? Oder lassen sich im Verhalten der VRCh in den Territorialstreitigkeiten Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die VRCh auf dem Weg ist, sich zu einer kooperationsbereiten Regionalmacht zu entwickeln? Eine eingehende Betrachtung der geschichtlichen und kulturellen Grundlagen der chinesischen Aussenpolitik, der chinesischen Sicht des regionalen Umfeldes sowie der aussenpolitischen Entscheidungsstrukturen und -prozesse soll bei der Beantwortung dieser Fragen helfen. Die Spratly-Frage stellt aber auch eine Bewährungsprobe für die ASEAN dar, an welche der Konflikt über ihre Mitgliedstaaten herangetragen wurde. Die ASEAN versucht, durch „Track-Two“ Aktivitäten einerseits sowie im ASEAN Regional Forum, die VRCh durch Kooperation zu „sozialisieren“, d.h. sie zur Anerkennung der ASEAN-Prinzipien der friedlichen Streitbeilegung zu bewegen. Sollte dieser Sozialisierungsansatz jedoch scheitern, so ergäben sich daraus schwerwiegende negative Auswirkungen sowohl auf das Ansehen der ASEAN, ihren Zusammenhalt wie auch auf die zukünftige Gestaltung der regionalen Sicherheit. Es geht der Arbeit um eine umfassende Aufarbeitung des Problemkomplexes „Spratly-Frage“, und zwar mit Hilfe einer Erläuterung der Spezifika der chinesischen Aussenpolitik, der Vorzüge und Schwächen des „Sozialisierungsansatzes“ der ASEAN sowie einer Bewertung der bisherigen Bemühungen der ASEAN, die Territorialstreitigkeiten zu lösen. Auf dieser Grundlage wird deutlich, warum es bisher nicht möglich war, eine pragmatische Lösung der Spratly-Frage zu finden und welche Voraussetzungen in Zukunft erfüllt werden müssen, um diese Aufgabe zu bewältigen.