Epoché und Alterität
Invarianten des Epoché-Vollzugs und der Weg in eine enthaltende Haltung
Marius Sitsch
Die vorliegende Studie fragt nach der Verbindung von Epoché und
Alterität. Um die existen-tielle Erfahrung zutage zu fördern, die dem
Epoché-Vollzug zugrunde liegt, wird in Anleh-nung an die eidetische
Variation und die Einfühlung eine Methode entwickelt, die aus dem
Durchlaufen von sechs Beispielen besteht: die Epoché in der antiken
Skepsis, die Praxis von Samatha und Vipassana und das Erlebnis des
Erwachens (bodhi) im Buddhismus, die Nach-denklichkeit bei Hans
Blumenberg, die Epoché bei Edmund Husserl, die Epoché bei Natalie
Depraz, Pierre Vermersch und Franciso Varela und die Epoché bei
Hans Rainer Sepp. Nach diesem Durchlauf zeigen sich die Beispiele
als Varianten einer Geste, wobei zwischen dieser und der Alterität eine
enge Verbindung hervortritt: In der Begegnung mit radikaler Andersar-
tigkeit liegt das auslösende Moment der Epoché und diese ermöglicht
eine besondere Haltung gegenüber der Alterität.
Zur weiteren Vertiefung werden in Anlehnung an die Oikologie Sepps
die leibliche Verortung der menschlichen Existenz und ihr grundsätzliches
Verhältnis zur Alterität im Lichte des Epo-ché-Geschehens analysiert.
Thematisch wird hier die Alterität als Andersartigkeit des Undurchdringlichen,
mit dem die menschliche Existenz konfrontiert ist,
als eigene Andersartig-keit, als Andersartigkeit des Anderen und, im
Hinblick auf das religiöse Erlebnis als Form der Epoché, als Andersartigkeit
des absolut Anderen. Im Anschluss an Emmanuel Lévinas’
Kon-zept des Antlitzes wird abschließend das protoethische Potential
der Epoché als Weg in eine enthaltende Haltung aufgezeigt. Denn die
Praxis der Epoché ermöglicht es, dem Anderen zu begegnen, ohne ihn
zu assimilieren oder sich selbst anzupassen und im Anderen zu verlieren
oder sich schlicht in sich selbst zurückzuziehen.