Erziehungswissenschaftliche Disziplinen und Forschungsschwerpunkte in der DDR.
Siegfried Baske
Vorwort
Der vorliegende Band vereinigt Referate, die vom 8. bis 10. Februar 1985 in Berlin auf der dritten Tagung der Fachgruppe Erziehungswissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung vorgetragen und diskutiert wurden. Während die beiden vorangegangenen Tagungen Fragen der Bildungsreform und der Schulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik – vornehmlich vergleichend – behandelt hatten, wurden diesmal Fragen der pädagogischen Forschung in der DDR aufgegriffen. Dabei wurde darauf verzichtet, den vergleichenden Aspekt ausdrücklich in das Tagungsthema einzubeziehen. Es blieb den Referenten überlassen, inwieweit sie ihn berücksichtigen wollten. In erster Linie war die Tagung darauf gerichtet, das Wissen um die Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Disziplinen in der DDR zu erweitern und zu aktualisieren. In der Mehrzahl waren die Beiträge als disziplingeschichtliche Untersuchungen angelegt und darum bemüht, vor allem die Ziele, Methoden und Ergebnisse ausgewählter Disziplinen zu erfassen und möglichst auch über den aktuellen Stand der theoretischen Fragestellungen Klarheit zu gewinnen.
Disziplinen der DDR-Pädagogik sind in der Bundesrepublik Deutschland schon seit den 60er Jahren Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschungen. Seit 1970 erschienen mehrere auf einzelne Disziplinen bezogene Monographien, die zuvor meist als Dissertationen vorgelegt wurden. Diese Arbeiten bieten umfassende Darstellungen der empirischen pädagogischen Forschung, der historischen und der vergleichenden Pädagogik, der Didaktik, der Jugendforschung und der Bildungsplanung. Einschlägige Forschungsbeiträge sind weiterhin in Publikationen enthalten, die im Rahmen von Untersuchungen über Erziehungs- und Bildungsbereiche jeweils auch auf die entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen eingehen. In unterschiedlicher Intensität und Ausführlichkeit geben sie Aufschlüsse über schultypenbezogene Disziplinen, Familien- und Erwachsenenpädagogik, pädagogische Psychologie, Bildungssoziologie und Fachdidaktiken. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die von Dietmar Waterkamp über die Lehrplanreform in der DDR vorgelegte Untersuchung, die wesentliche Ausführungen sowohl über die Theorie der Allgemeinbildung als auch über die Lehrplantheorie und Didaktik bringt.
In der DDR selbst liegen bislang nur wenige Publikationen vor, die sich mit der Entwicklung einer pädagogischen Disziplin und ihrer Forschungsleistung befassen. Streng genommen, beschränkt es sich auf jeweils eine Untersuchung zur Allgemeinbildung und zur Unterrichtstheorie. Eine der Jugendforschung gewidmete Studie von Walter Friedrich hat nur teilweise den Charakter einer disziplingeschichtlichen Untersuchung. Mehrere Arbeiten, die als Beiträge zur Theorie einer pädagogischen Disziplin ausgewiesen sind, berücksichtigen kaum oder gar nicht die historische Dimension der jeweils behandelten Disziplin. Die jährlich publizierten Berichte der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR (APW) über die Ergebnisse ihrer Arbeit geben nur wenig Aufschluß über die Entwicklung und die Forschungsleistung der pädagogischen Disziplinen. Etwas ergiebiger sind in dieser Beziehung zwei in den Jahrbüchern der APW veröffentlichte, auf die 70er Jahre bezogene Fünfjahresberichte über die Ergebnisse der Didaktikforschung. In der Regel ist ein detailliertes Bild über die in den einzelnen Disziplinen geplanten und geleisteten Forschungen nur zu gewinnen, wenn die speziellen Untersuchungen zu differenzierten Problemen eines Forschungszweiges herangezogen und ausgewertet werden. Auch diesem Vorgehen sind Grenzen gesetzt, da ein Teil der in Forschungsinstituten durchgeführten Untersuchungen nicht veröffentlicht wird und selbst Dissertationen oft nicht zugänglich sind.
Wie in der Bundesrepublik Deutschland befindet sich die pädagogische Forschung der DDR seit den 60er Jahren in einem Prozeß fortschreitender Differenzierung, der über die schon vor 1945 vorhandenen Ansätze weit hinausgeht. Hier wie dort gibt es aber das Problem, welche der sich entwickelnden Teilgebiete den Status einer Disziplin gewonnen haben und als solche allgemein anerkannt werden. Abgesehen von terminologischen Schwierigkeiten – etwa bei der Frage nach der Kongruenz von Didaktik und Unterrichtstheorie oder von allgemeiner Erziehungswissenschaft, systematischer Pädagogik und Erziehungstheorie -, gibt es sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR recht unterschiedliche Versuche der Gliederung und der Klassifikation. In der DDR wird der gegenwärtige Stand der Problematik vor allem durch zwei Strukturmodelle gekennzeichnet.
Die bislang ausführlichste Darstellung finden wir in der deutsch-sowjetischen Gemeinschaftsarbeit „Pädagogik“, in der ein Abschnitt ausdrücklich den Disziplinen der Pädagogik gewidmet ist. Darin werden nach Kriterien, die meist nicht näher bestimmt werden, verschiedene Gruppen oder Typen pädagogischer Disziplinen unterschieden und zusammengefaßt.
Als erste Gruppe werden „pädagogische Disziplinen breiten, verallgemeinernden Charakters“ genannt. Zu ihnen gehören: Allgemeine Pädagogik, Erziehungstheorie, Didaktik, Leitung und Organisation des Volksbildungswesens, Geschichte der Erziehung, Auslandspädagogik.
In einer zweiten Gruppe unter der Sammelbezeichnung „Sonderpädagogik/Defektologie“ werden vereinigt: Blinden- und Sehgeschädigtenpädagogik, Schwerhörigenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik, Hilfsschulpädagogik, Logopädie.
Zu einer dritten Gruppe werden Disziplinen gezählt, die sich auf einzelne Stufen des Bildungssystems beziehen und sich durch spezifische Bildungs- und Erziehungsaufgaben unterscheiden: Vorschulpädagogik, Schulpädagogik, Berufspädagogik, Hochschulpädagogik, Erwachsenenpädagogik.
Als Disziplinen, die „durch spezifische Aufgaben und qualitative Besonderheiten der untersuchten Erziehungsprozesse charakterisiert“ sind, werden ausgewiesen: Familienpädagogik, Militärpädagogik, Betriebspädagogik, Sozialpädagogik.
Eine besondere Gruppe bilden schließlich die Disziplinen, die aus dem Zusammenwirken mit anderen Wissenschaften entstanden sind und als „synthetische“ Disziplinen und „Grenzwissenschaften“ bezeichnet werden: Pädagogische Psychologie, Bildungsökonomie, Bildungssoziologie.
Ob auch die Fachdidaktiken und die Methoden der Unterrichtsfächer als selbständige Disziplinen angesehen werden, bleibt unklar. Einerseits wird auf die enge Verbindung der Methodiken mit der Didaktik und „mit jenen Wissenschaften beziehungsweise anderen Kulturbereichen“ verwiesen, „deren Grundlage im jeweiligen Unterrichtsfach gelehrt werden“, andererseits wird festgestellt: „Das Verhältnis zwische allgemeinem und speziellem Wissen darf man sich nicht nur als Konkretisierung der Leitsätze der allgemeinen Disziplin in der speziellen Disziplin vorstellen“.
Ebenso ist es fraglich, ob die Darstellung der pädagogischen Disziplinen in der Gemeinschaftsarbeit der Akademien der Pädagogischen Wissenschaften als uneingeschränkt repräsentativ für die DDR angesehen werden kann, zumal für diese Abhandlung – im Unterschied zu anderen Kapiteln – allein ein sowjetischer Pädagoge, W. E. Gmurman, als Verfasser ausgewiesen wird und die deutschsprachigen Ausgaben im Vergleich zu den sowjetischen, was den Abschnitt über die pädagogischen Disziplinen betrifft, nur geringfügige Abweichungen erkennen lassen. Die Antwort dürfte in der Richtung liegen, daß es – wie in anderen Ländern – auch in der DDR keine allgemein anerkannte und verbindliche Gliederung der Pädagogik bzw. des „Systems pädagogischer Wissenschaften“ gibt, und daß die Darstellung Gmurmans als eine von mehreren Möglichkeiten akzeptiert wird. Es kommt hinzu, daß die Differenzierung der Pädagogik und die Integration einzelner Disziplinen als nicht abgeschlossene Prozesse betrachtet werden.
Ein zweites Strukturmodell ist in der von Werner Naumann verfaßten „Einführung in die Pädagogik“ enthalten, die 1977 in zweiter Auflage veröffentlicht wurde. Im Schlußkapitel „Bemerkungen zum System der pädagogischen Wissenschaften“ gibt Naumann unter Andeutung der Klassifikationsaspekte eine instruktive Übersicht (hier nicht aufgeführt).
Kommentierend weist Naumann darauf hin, daß sich auch zahlreiche Grundlagen- bzw. Nachbarwissenschaften mit der Erziehung beschäftigen, wie der historische Materialismus, die Ethik und die Psychologie, und daß „im Grunde genommen jede pädagogische Disziplin, die einen Objektbereich widerspiegelt (z. B. die Pädagogik der Allgemeinbildung oder die Pädagogik der Erziehung in den Kinder- und Jugendorganisationen) zugleich unter verschiedenen Aspekten untersucht werden kann, also unter historischen, vergleichenden oder systematischen“. Die Vergleichende Pädagogik sieht er insofern in einer „Mittelstellung“, als sie „sowohl historische als auch systematische (aktuelle!) Vergleiche“ vornehmen kann.
Die institutionelle Entwicklung pädagogischer Disziplinen vollzog sich in der DDR sowohl in den Hochschulen, darunter am stärksten in der Humboldt-Universität Berlin und in der Pädagogischen Hochschule Potsdam, als auch in außeruniversitären Forschungsstätten, insbesondere in dem 1949 gegründeten Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, das 1970 zur Akademie der Pädagogischen Wissenschaften mit der Aufgabe, als zentrale Leiteinrichtung für die gesamte pädagogische Forschung zu fungieren, umgestaltet wurde. Der besonders in den 60er Jahren voranschreitende Prozeß der Ausdifferenzierung erziehungswissenschaftlicher Teilgebiete spiegelt sich auch in dem Wissenschaftlichen Rat des Ministeriums für Volksbildung, einem von 1959 bis 1970 bestehenden Beratungsorgan für Fragen der pädagogischen Forschung, mit der Einrichtung von 16 Sektionen wider.
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß die empirische Pädagogik weder in den theoretischen Gliederungsversuchen noch im institutionellen Bereich namentlich als Disziplin ausgewiesen ist. Die Erklärung hierfür dürfte vor allem darin liegen, daß sich entsprechende Forschungen nicht auf eine Disziplin beschränken. Die Forderung nach empirischen pädagogischen Forschungen kommt sowohl in amtlichen Quellen als auch in der Tatsache zum Ausdruck, daß der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften und anderen Forschungsstätten sog. Forschungsschulen zur Verfügung stehen. Danach hat die empirische Forschung einen hohen Stellenwert, und es erscheint nicht abwegig, sie zu den Schwerpunkten der pädagogischen Forschung zu zählen. Allerdings gelten für empirische Forschungen strenge Regeln der Meldepflicht, der Kontrolle und der Vertraulichkeit. Daraus erklärt sich, daß Veröffentlichungen über empirische Forschungsergebnisse sehr selten sind, und daß entsprechende Darstellungen meist mit dem Hinweis auf „internes Material“ belegt werden.