Eugen Ehrlich interkulturell gelesen
Markus Porsche-Ludwig
Bereits in seinen ersten Schriften ging der Rechtssoziologe Eugen Ehrlich (1862-1922) der Beobachtung nach, dass das Gesetzesrecht und die Regeln, nach denen die Menschen wirklich leben, vielfach nicht übereinstimmen. Da nach seiner Ansicht eine Rechtswissenschaft, die lediglich versucht, das Gesetzesrecht in ein begrifflich und logisch folgerichtiges gedankliches System zu bringen, das Wesen und die Wirklichkeit des Rechts nicht angemessen erfasst, will er das in der Gesellschaft tatsächlich praktizierte Recht erforschen. Er verwendet dafür den Begriff des „lebenden Rechts“ als Gegensatz zum (gesetzlich) normierten Recht.
Dabei liegen die wissenschaftlich wie auch politisch wichtigen Themen auf der Hand: Wie rechtliche Vorschriften wirken, ob sie angewandt und befolgt werden, ob sie ihre Zwecke erfuellen, welcheunerwuenschten Nebenfolgen sie haben – all das sind nicht nur theoretische Fragen. Forschungen darueber, welches Rechtsbewusstsein die Menschen haben: wodurch dieses gepraegt wird und wie es sich im Prozess der oeffentlichen Meinungs- und Willensbildung auswirkt, sind in der Demokratie von existentieller Bedeutung. Die Ueberzeugungskraft und der Erfolg staatlicher Konfliktregelung haengen davon ab, welche Arten von Konflikten und welche zu ihrer Loesung geeigneten Verfahren es gibt und ob die Menschen die dafuer vorgesehenen Einrichtungen wahrnehmen koennen. Auch wie sich das Recht in einer globalen Welt aendert, wird uns noch Jahrzehnte beschaeftigen. Unter diesen Aspekten wird das Werk Ehrlichs interkulturell gelesen.