Figuras
Jacques Guidon
Dieses Buch ‚figuras‘ ist wie ‚pennarias/Schreibfedereien‘ ein Nebenprodukt der künstlerischen Tätigkeiten Guidons. Der Betrachter steht hier mit Gesichtern und Figuren von Angesicht zu Angesicht.
‚Figuras‘ ist aus der Theaterarbeit des Zeichners hervorgegangen. Ursprünglich waren es blosse Kostümentwürfe, die sich dann in der Folge zum eigenständigen Figurenzeichnen entwickelt haben. Der
Autor hat dann zeitweise fast wie unter Zwang, aber auch mit einem unbändigen Spass Hunderte von Figuren gezeichnet – weitaus die meisten für den Papierkorb.
Die Zeichnungen sind rasch entstanden, spontan hervorgebracht, und sie unterlagen nur selten nachträglicher Veränderung. Es sind impulsive Expressionen. Wie bei der Handschrift tritt der Duktus als sichtbar werdender Teil des Unbewussten in Erscheinung. Die Figuren sind lebendig, eindrücklich und suggestiv. Ihre ‚Unvollkommenheit‘ gibt ihnen aber als Ausgleich das gewisse Etwas, ohne das auch wirkliche Schönheit nicht zur Geltung kommt. Und sie sind sinnenhaft lesbar.
Beim Schreiben und bei der Inszenierung von Theaterstücken hat sich der Autor Gesichter für die Rollenspieler einbilden müssen. Die vorliegenden Zeichnungen sind also sozusagen aus dem Unterbewusstsein befreite Ein-Bildungen.
Die Figuren sind dementsprechend auch keine Karikaturen lebender Menschen. Wohl hat die Überzeichnung menschlicher Eigenschaften (Gutmütigkeit, Verschlagenheit, Neugier, Grossspurigkeit, Wildheit, Melancholie z.B.) etwas mit der Karikatur zu tun.
Schon beim flüchtigen Durchblättern dieses Bildbandes wird der Betrachter trotzdem auf Darstellungen stossen, die ihm seltsam vertraut sind, auf Gesichter und Staturen, die er bereits zu kennen glaubt. Sie können ihm aber bis jetzt nicht begegnet sein, wohl aber dem Menschlichen und Allzumenschlichen, das sie ausdrücken. Sie sind – wie Figura eben zeigt – fiktive Figuren, wenige ordentliche, die meisten überspannte Figuren, die mit allen möglichen und unmöglichen menschlichen Eigenschaften behaftet sind. Auf alle Fälle sind sie nie gesichtslos. Und sie sind – im Gegensatz zu lebenden Menschen – nicht für ihren Gesichtsausdruck verantwortlich. Makellose Gesichter geben ja nicht ohne weiteres Auskunft über die Person.
Viele dieser Figuren/Gesichter müssten dringend geliftet und gestylt werden. Die meisten sind zudem anatomisch nicht ganz richtig ‚gebaut‘. Sie foutieren sich darum. Sie haben den Mut zur Hässlichkeit. Dafür sind sie ausdrucksstark; sie sind Gesichtsurnen.
Sogar der Physiognomiker J. K. Lavater hätte mit der Deutung dieser Figuren seine liebe Not gehabt! Wen optische Fehler stören, der soll ein Auge zudrücken. Aber! ‚Wer viel sehen will, braucht nur ein Auge zuzudrücken!‘ (Daniel Varé)
Diese Figuren – mit ihrem gewissen Etwas – stehen im Gegensatz zu denen, die der neuzeitliche Schönheitswahn propagiert. Auf den Gesichtern dieser Figuren haben Erlebnisse und Erfahrungen ihre Signaturen hinterlassen, die eben nicht ‚vertuscht‘ wurden.
Manche Figuren mögen dem Betrachter ein Lächeln oder ein Schmunzeln entlocken. Dann haben sie einen Teil ihres Zweckes erfüllt. Das andere Teilziel ist wohl, dem Betrachter die Möglichkeit zu bieten, den Figuren eine Lebensgeschichte zu ersinnen und ihre Träume zu erraten. Die begleitenden kurzen literarischen Personenbeschreibungen möchten neben der Zeichnung auch die Sprache zu Worte kommen lassen.