Hahn oder Henne?
Michael Bratusa
Nach der Niederschrift der ersten Zeilen und Seiten ihres Debütromans ist die junge Schriftstellerin Lisa ganz euphorisiert. Sie spürt, dass ihre Zeit nun angebrochen ist. Unbemerkt verstrickt sie sich in den kommenden Wochen und Monaten tiefer und tiefer in eine finstere Dystopie, aus der es bald kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Wie Spinnfäden breitet sich in ihrem Innersten das Gefühl aus, es gehe längst nicht mehr um die Geschichte, sondern um ihr nacktes Überleben. Der altersschwache Lektor ist ihre einzige Unterstützung im Kampf gegen die Einsamkeit und die Angst vor jedem Wort, das sie fabriziert. Lebt er noch lange genug, um sie bis zum Ende ihres Weges zu begleiten? Und gelingt es Lisa, der Stimme in ihrem Herzen zu folgen und den weltumspannenden, menschenverachtenden Zeitgeist in bestechende Literatur zu gießen?
Mit der Schreibfeder erweckt sie ein Königspaar zum Leben, dem eine Heerschar Untertanen, die sogenannten Vor-Herren, scheinbar bedingungslos dienen. Für das Grundgerüst einer erfolgreichen Diktatur fehlen noch gigantische, hochgezüchtete Hühner, um den Krieg gegen die Mittelschicht ausfechten zu können. Aus verschiedenen Ich-Perspektiven erzählt, zwingt Lisa sich und ihre Leserschaft auf abgründiges Terrain und durch eindringliche Dialoge. Es erscheint einem die schwarze Erdoberfläche geradezu malerisch, wenn sie beschreibt, was sich im Untergrund des Welt-Zentraltheaters verbirgt. »Ein abscheulicher Ort. Es wäre vernünftig, diesen, zusammen mit den Gefangenen, zuzuschütten.«