Herrschaft, Recht und Islam in Daghestan
Von den Khanaten und Gemeindebünden zum Dschihad-Staat
Michael Kemper
Diese Arbeit beschreibt den Widerstand der Muslime des Nordkaukasus gegen das russische koloniale Vordringen im 19. Jahrhundert in die Kontinuität einer jahrhundertelangen regionalen Tradition von islamisch legitimierter Herrschaft und Rechtsgelehrsamkeit. Bereits die ältesten islamischen Quellen Daghestans, die Islamisierungslegenden der Fürstentümer und die Rechtsaufzeichnungen der Gemeindebünde (15./16. Jahrhundert), reflektieren den Streit um das Verhältnis von islamischem Recht und Gewohnheitsrecht. Im 18. Jahrhundert wurde der Islam zum Abwehrkampf daghestanischer Gemeinden und Fürsten gegen Iran instrumentalisiert, und Rechtsgelehrte versuchten, in ihren Berggemeinden das als unislamisch empfundene Gewohnheitsrecht durch islamisches Recht zu ersetzen. Vor dem Hintergrund dieser regionalen Herrschafts- und Rechtsgeschichte erscheint auch der berühmte Dschihad der Muslime Daghestans und Tschetscheniens gegen das russische Vordringen im 19. Jahrhundert in anderem Licht. Bisher ging die Forschung davon aus, dass der langjährige militärische Widerstand wie auch der Aufbau des Dschihad-Staates im wesentlichen eine Leistung der sufischen Bruderschaft der Naqšbandiyya war, die erst kurz zuvor aus dem Osmanischen Reich nach Daghestan gelangt war. Dieser Interpretation zufolge gelten die drei aufeinanderfolgenden Imame und insbesondere der dritte Imam Šamil (reg. 1834 bis 1859) als Oberhäupter dieser Bruderschaft. Diese Sicht basiert im wesentlichen auf russischen Quellen und Militärberichten. Die hier nun vorgenommene Untersuchung der sufischen und gelehrten Netzwerke und Diskurse der Šamil-Zeit anhand von einheimischen Quellen in arabischer Sprache zeigt hingegen, dass die Imame selbst gar keine Sufi-Scheiche waren, und dass Sufis kaum in Militär und Verwaltung des Dschihad-Staates eingebunden waren. Vielmehr stützte sich Šamil in diesen Bereichen vor allem auf alteingesessene Notablenfamilien. Auch beriefen sich die Dschihad-Imame in ihren Sendschreiben nicht auf sufische Ideale, sondern eben auf daghestanische Rechtsgelehrte des 18. Jahrhunderts und deren Kampf gegen das unislamische Gewohnheitsrecht. Hieraus folgt, dass nicht der „importierte“ Sufismus die treibende Kraft des Dschihad war, sondern das islamische Recht und der Versuch, ein islamisches Staatswesen auf der Basis der Scharia zu begründen. Diese Erkenntnis ist von weitreichender Bedeutung für unser heutiges Verständnis der Geschichte Daghestans, verweist sie doch auf die Kontinuität der eigenen Traditionen des Nordkaukasus, die allerdings durch extern bedingte Krisen jeweils neue Anstöße erhielten. Die Unterscheidung zwischen internen und externen Faktoren sowie zwischen sufischen und gelehrten Legitimationsdiskursen und Netzwerken ermöglicht zudem auch eine bessere Vergleichbarkeit des nordkaukasischen Dschihad mit anderen antikolonialen Dschihad-Bewegungen des 19. Jahrhunderts.