Hofmannsthals Existenzbegriff interkulturell gelesen
Michael Collel
Hugo (Laurenz August Hofmann, Edler) von Hofmannsthal (1874-1929)
Im Gegensatz zu dem Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe etwa, dem ausdrücklich seiner Inneren Religion und (beispielsweise) ausweislich des West-östlichen Divan ein veritables interkulturelles Ansinnen in der Optik einer Emanzipation von konfessionellen Gängelbändern attestiert werden kann, ist Hugo von Hofmannsthal ein vorzüglich wienerisch-österreichisches Gewächs, das seine nationalen Wurzeln als Textlieferant für berühmte Strauß-Opern (Elektra, Der Rosenkavalier, Ariadne auf Naxos.; 1909, 1910, 1911/3), Mitbegründer und Mitherausgeber der Österreichischen Bibliothek (ab 1915), poetische Ikone der Salzburger Festspiele (Jedermann, Das Salzburger Große Welttheater; 1920/2) und sendungsbewusstes Sprachrohr kulturpädagogischer Positionskommentare (Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, Wert und Ehre der deutschen Sprache; 1927) in einen lokal- und kulturpatriotischen Boden einschlägt.
Und wenngleich sich seine Blüte, aufgehend mit den lyrisch-dramatischen Einaktern (Gestern, Der Tor und der Tod.;1891/3) des Siebzehnjährigen (!) Loris (Hofmannsthal-Pseudonym), mit scheinbarer Leichtigkeit in den imposanten Horizont einer einschüchternden Bildungsfülle erhebt, so bleibt Hofmannsthal eine seltene Zierpflanze der abendländischen Kulturgeschichte. Der sich – durchaus in geographischer Unmittelbarkeit – ganz Europa erschließende Reisedichter Hugo von Hofmannsthal kennt die transkontinentale Welt vorzüglich als vermitteltes Bildungserlebnis, und mag der ein oder andere Aphorismus aus seinem Buch der Freunde (1921) auch die eine oder andere konfuzianische Weisheit galionieren, mag Hofmannsthal einige Schauplätze seiner dramatischen Werke auch in den Orient verlegen und mit Titeln wie: Das Märchen der 672. Nacht (1895) eine literarische Verwandtschaft zu Schahrasad, der großen Geschichtenerzählerin und dergestalt Überlebenskünstlerin aus Tausendundeine Nacht suggerieren, so ist seine spezifische Kulturgenese – typisch europäisch – ein Amalgam aus Antike und Christentum.
Und dennoch gilt: Hugo von Hofmannsthal ist zwar kein interkultureller Dichter, und doch ein Dichter von höchster, nein: tiefster Interkulturalität. Er hat zwar kein interkulturelles Werk geschrieben, und doch ist sein Œuvre vorzüglich interkulturell, nicht nach Maßgabe seiner interkulturellen Schatten, die es würfe, sondern nach Mikroskopie seiner poetischen Keimzelle, die auch im Anfang eines jeden interkulturellen Weitblicks steht: das ihm sakrosankte Wörtchen >du
In einer späten Selbstbetrachtung seines Gesamtwerkes, Ad me ipsum (1916), erkennt Hugo von Hofmannsthal in einer Metaschau die formidable Einheit des Werkes und entwickelt, erst- und einmalig in holistisch-systematischer Prägung, sprich: als Philosoph, mit Seitenblick auf Platon, Gregor von Nyssa et altera die Begriffsdichotomie von Praeexistenz (= Noch-nicht-Existenz) und Existenz. Das in den Hafen der Existenz eingelaufene Individuum, das Zu sich selber gekommen und durch Tätigsein zum eigentlichen Sein, einem genuin sozialen Sein gelangt ist und sich als Gemeinschaftswesen versteht, muß – als Kandidat einer gelingenden ars vivendi – unter der Maxime veritabler Anteilnahme das interkulturelle Urei ausbrüten und dieses Urgut durch ein Zweites, durch die Treue bewahren und pflegen.
Hugo von Hofmannsthal gehört in die Interkulturelle Bibliothek, weil er wie kein zweiter deutscher Dichter, nicht etwa mit singulär-sporadischen Vorstößen, sondern mit seinem Gesamtwerk um eine Grundidee des Interkulturellen wirbt – und dies mit einer intellektuellen Schärfe, die zumindest ein wissenschaftliches Echo verdient, wenn nicht gar mehr.