Interkulturelle Orientierung
Grundlegung der Toleranz. Teil I: Methoden und Konzeptionen
Klaus Fischer, Hamid R Yousefi
Unzählige Publikationen auf den Feldern der Ethik, der politischen Philosophie und anderer philosophischer Disziplinen haben die Idee der Toleranz zum Untersuchungsgegenstand gewählt. Auch die Sozialwissenschaften und die historischen Wissenschaften nahmen sich des Themas an, indem sie die Erscheinungsformen von Toleranz und das ihnen zugrundeliegende menschliche Handeln in Geschichte und Gesellschaft untersuchten. Gegenstand der Sozialpsychologie waren die kognitiven Mechanismen, die entweder zu einem aggressiven und konfliktorientierten oder eher zu einem konsens- oder verhandlungsorientierten Verhalten führten. Auch zur Rolle des Vorurteils bei der Genese intoleranten Verhaltens haben Sozialpsychologen wichtige Beiträge geleistet. All diese Forschungen stellen Schritte zu einem besseren Verständnis von Funktionen, Erscheinungsformen, strukturellen Bedingungen, kognitiven Grundlagen, geistesgeschichtlicher Bedeutung und normativer Basis der Toleranz dar.
Einer interkulturell informierten und zugleich interkulturell orientierenden Sichtweise waren die meisten der vorliegenden Untersuchungen ungeachtet ihrer sonstigen Verdienste nicht explizit verpflichtet. Die gegenwärtige Problemlage einer postkolonialen und sich globalisierenden Welt macht eine solche Verlagerung des Brennpunktes und des Blickwinkels der Toleranzforschung allerdings zum dringenden Desiderat. Eine interkulturelle Perspektive erscheint in besonderer Weise geeignet, zum Verständnis und zur Erklärung aktueller politischer, ethnischer und religiöser Konflikte beizutragen und unter Berücksichtigung der gesamten Palette vorliegender Forschungen Lösungsansätze anzubieten. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die interkulturelle Toleranzforschung, da Beziehungen zwischen den Kulturen nur dann friedlich gepflegt werden können, wenn Dialoge zwischen ihnen auf der Grundlage wechselseitiger Toleranz geführt werden.
Die in zwei Bänden vorgelegte Aufsatzsammlung stellt eine Art Kompendium oder Handbuch dar. Eine toleranztheoretische und toleranzpraktische Systematik verbindet die Bände. Die historischen und gegenwartsbezogenen Aufsätze sind nach sachlichen Gesichtspunkten in jeweils sieben Abteilungen angeordnet und je nach ihrer Bezogenheit auf dialogische Theorie und Praxis unter folgenden Titeln zusammengestellt:
Interkulturelle Orientierung. Grundlegung des Toleranz-Dialogs.
Teil I: Methoden und Konzeptionen.
Teil II: Angewandte Interkulturalität.
Ziel der beiden Bände ist die Zusammenführung von Beiträgen, die den Toleranz-Dialog zwischen Kulturen, Traditionen und Religionen aus einer interkulturell orientierten und interdisziplinären Sicht heraus zu fördern versuchen oder zu fördern versprechen. Auch bei jenen Beiträgen, die dies nicht auf den ersten Blick erkennen lassen, bestehen interessante und weiterführende Bezüge zum Thema. Die Aufsätze stellen ein buntes Kaleidoskop von Zugängen zum Toleranz-Dialog vor, die von verschiedenen Sachproblemen her, auf variierenden methodischen Wegen, Fragen entfalten und Lösungsansätze anbieten. Streng wissenschaftlich oder an praktischen Problemen orientiert, distanziert oder engagiert, prinzipientreu oder skeptisch, vermitteln sie Orientierungsmuster mannigfacher Art. Diese Vielfalt an Sichtweisen, Herangehensweisen und Handlungsvorschlägen ist gewollt: Interkulturalität und Toleranz müssen auch, bei Strafe der Selbstwiderlegung, auf der Ebene der Reflexion über Theorie und Praxis von Interkulturalität und Toleranz zur Geltung kommen.
›Interkulturalität‹ und ›Interkulturelle Orientierung‹ werden in diesen Beiträgen im einzelnen unterschiedlich definiert und diskutiert. Daher ist zunächst zu klären, was als der allgemeinste Nenner dieser beiden Begriffe angesehen werden kann. Beide Begriffe bezeichnen eine Grundhaltung, die sowohl eine theoretische als auch eine praktische Differenz gegenüber anderen handlungsrelevanten Einstellungen markiert. Zum Wesen von Interkulturalität und interkultureller Orientierung gehört zum einen die Pflege einer Kultur der Gleichberechtigung, des Friedens und des Dialogs, zum anderen eine Frontbildung gegenüber totalitären Auffassungen jeglicher Couleur. Zu ihren Zielen gehört auch die Dekonstruktion des verabsolutierenden Gebrauchs der Begriffe Wahrheit, Kultur, Religion und Philosophie. Die beiden Begriffe sind also weitgehend austauschbar.
Interkulturalität und Interkulturelle Orientierung sollten nicht mit trans-kultureller Orientierung verwechselt werden, sofern mit letzterer die Meinung verbunden ist, daß die eine oder andere Tradition, Kultur, Religion oder Philosophie der anderen unter- oder übergeordnet werden sollte. Transkulturalität in diesem Sinne beruht auf einer Zentrum-Peripherie-Perspektive und führt allenfalls zu einem mißverstandenen Universalismus, der insofern partikularistisch ist, als er die Verabsolutierung einer bestimmten Tradition zur Folge hat. Obwohl es sich letzten Endes um eine Definitionsfrage handelt, ziehen wir die Vorsilbe inter- der Vorsilbe trans- aus den genannten Gründen vor.
Eine interkulturelle Orientierung setzt die primäre Anerkennung der Gleichberechtigung aller Stimmen als unbedingte Grundlage des Toleranz-Dialogs voraus. Nur im Dialog selbst kann sich erweisen, ob diese Voraussetzung tatsächlich erfüllt ist. Ausgehend von der Vermutung, daß es mehr als die eine technokratische Vernunft gibt, der sich die Menschen einer globalisierten Welt immer direkter und immer vollständiger ausgeliefert fühlen, verfolgt interkulturelle Orientierung das Ziel, den Weg für die Durchsetzung einer ›kommunikativen Vernunft‹ zu ebnen, die sich auch in interkulturellen, interreligiösen, interideologischen, interwissenschaftlichen und interpolitischen Diskursen niederschlägt.
1. Was interkulturelle Orientierung nicht ist
1. Sie ist weder eine Zivilreligion der modernen Gesellschaft noch ein provinzialistischer Kulturalismus.
2. Sie ist keine bloße Reaktion angesichts der pluralistischen Situation im Weltkontext der Kulturen, sondern eine konzeptuelle Antwort auf die de facto hermeneutische Situation der Gegenwart.
3. Sie ist keine oberflächliche Ästhetisierung, die der Exotik fremder Kulturen erliegt.
2. Was interkulturelle Orientierung ist
1. Sie bedeutet den Ausgang des Menschen aus dem kulturalistischen Denken und stellt eine philosophische Neubesinnung dar, die Philosophie im Sinne ihres Weltbegriffes versteht und die zugleich verhindert, daß kulturelle Prägungen sich verabsolutieren.
2. Sie ist darauf aus, die Kultur- und Philosophiegeschichte von Grund auf neu zu konzipieren und zu gestalten. Es geht um die Konzeption einer Philosophie, welche die ›philosophia perennis‹ sichtbar macht und für Einheit ohne Einheitlichkeit plädiert.
3. Sie bevorzugt das Prinzip der offenen Frage. Methodisch verfährt sie dialogisch, so daß sie kein Begriffssystem privilegiert.
4. Sie bejaht Zentren, lehnt jedoch Zentrismus und eine Zentrum-Peripherie-Denkweise ab. Sie stellt eine ästhetische Kultur in Aussicht, die als Basis der politischen Kultur für die Kommunikation fruchtbar gemacht werden kann, und lehnt die Xenophilie genauso ab wie die Xenophobie. Eine Politik der unreflektierten Umarmung führt oft zur Enttäuschung hoher Erwartungen, während unreflektierte Ablehnung nicht selten praktische Gewalt im Gefolge führt.
5. Sie steht der Vorstellung einer ›völligen Identität‹ oder ›totalen Differenz‹ von Kulturen, Religionen und Traditionen skeptisch gegenüber, sucht den Kompromiß und distanziert sich von jeglichem ausschließenden Absolutheitsanspruch.
6. Sie verwechselt nicht Heterothese mit Antithese, eine Verwechslung, die im Geiste einer Logik des Entweder-Oder nur wahre und falsche Philosophien, Kulturen und Religionen kennt.
Interkulturelle Orientierung pflegt im Rahmen der Angewandten Toleranzforschung insbesondere folgende Perspektiven:
1. eine philosophische, die die Einsicht kultiviert, daß die philosophia perennis etwas von allen zu Suchendes und nie endgültig Gefundenes ist;
2. eine religionswissenschaftliche, aus deren Sicht alle Religionen und Kulturen in einer über weite Strecken gemeinsamen ›Lebenswelt‹ verwurzelt sind, die sie mit anderen Religionen und Kulturen verbindet;
3. eine religiöse, die auf der Grundüberzeugung basiert, daß die religio perennis in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt;
4. eine kulturelle, die keine Tradition privilegiert, aber eine wechselseitige Befruchtung und Bereicherung durch Kommunikation und Interaktion intendiert;
5. eine intertextuelle, die eine kulturenübergreifende weltliterarische Haltung bezeichnet, welche die Ausprägungen kultureller Vielfalt in unterschiedlichen Sprachen ohne Scheuklappen würdigt;
6. eine pädagogisch-erzieherische, deren Ziel es ist, vom Kindergarten bis zu den Institutionen der Erwachsenenbildung eine Einstellung wechselseitiger Toleranz zu fördern;
7. eine psychologische, die darauf bedacht ist, die Motive und Einstellungen der Menschen sowie das aus ihnen folgende Verhalten ernst zu nehmen;
8. eine soziologische, welche sowohl die Auswirkungen inter- und intrakulturellen Verhaltens auf gesellschaftliche Strukturen als auch die Abhängigkeit solchen Verhaltens von existierenden Strukturen untersucht;
9. eine politische, hinter der die Überzeugung steht, daß eine interkulturelle Orientierung den Grundsätzen einer pluralistischen und demokratischen Ordnung entspricht.
Theoretische Erkenntnisse, die über die Toleranz gewonnen werden, müssen sich im pragmatischen Umfeld realer interkultureller Orientierungen und interkulturellen Handelns bewähren. Die Philosophie als ein „denkerisches Projekt“ ist ein ständiges „Arbeiten an den Voraussetzungen der Möglichkeit universeller Kommunikation.“ Diese Maxime gilt für alle wissenschaftliche Ausrichtungen, die sich an dem Dialog der Kulturen, Religionen und Philosophien beteiligen wollen.
Als ›conditio sine qua non‹ für eine interkulturelle Verständigung und Kommunikation ist die interkulturelle Kompetenz anzusehen. Als Fähigkeit muß sie auf eine Reflexion des eigenen Standpunktes hin entwickelt und kultiviert werden. Interkulturelle Kompetenz muß, wenn sie nicht im rein theoretischen Bereich verharren will, zu interkultureller Performanz führen. Als Fertigkeit zielt sie auf die dialogische Transformation interkultureller Kompetenz in unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Lebens. Darüber hinaus besteht interkulturelle Kompetenz in der Realisation einer freiwilligen Selbstbescheidung und Selbstbegrenzung, verbunden mit Rücksichtnahme.
Die Vermittlung von interkultureller Kompetenz könnte ein erfolgversprechender Weg sein, um der multikulturellen Herausforderung im Zeitalter der Globalisierung begegnen zu können. Ein Plädoyer für interkulturelle Kompetenz kommt somit einem Plädoyer für interkulturelle Orientierung gleich.
Interkulturelle Orientierung: Grundlegung des Toleranz – Dialogs. Eine bemerkenswerte Neuerscheinung, von Peter Gerdsen
Philosophischer Literaturanzeiger, Heft 43/44, 2006