Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft / Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge, Band 29
Agnes Pistorius: Der Satiriker in Grillparzer
Robert Pichl, Agnes Pistorius, Margarete Wagner
Zu ihrer umfassenden Studie Der Satiriker in Grillparzer wurde Agnes Pistorius (1945–2021) von dem bedeutenden Wiener Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler angeregt, der eine komisch-satirische Wirkung von Grillparzers tragischen Helden in deren genuinem Charakter begründet sah. Ihnen sei in ihrem Bestreben, treue Diener sein zu wollen, die eigentlich tragische Dimension abhanden gekommen. Inneres Wesen und äußerer Habitus der Helden gehen dabei Hand in Hand. Diese auf die Moderne vorausweisende Persönlichkeitsbetrachtung und ihre literarische Umsetzung sind zwar immer wieder von Literaturkritik und -wissenschaft ansatzweise wahrgenommen worden, von Agnes Pistorius werden sie nun erstmals einer umfassenden systematischen Untersuchung unterzogen.
Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die besondere Sprachgebung von Grillparzers Dramen, die unter der Oberfläche des klassischen Blankverses einen hohen Grad an Differenzierung aufweist. Ihre für Grillparzer typischen Erscheinungsformen, beobachtbar als Spaltung der Verse, als Verstummen der Figuren oder als Pausen und Verzögerungen innerhalb des Redeflusses, kennzeichnen die Brüchigkeit einer der Tradition verpflichteten politischen Ordnung und ihrer Ästhetik. Grillparzers Sprachcharakteristik und -rhythmik finden ihre Fortsetzung in Mimik und Gestik der handelnden Personen. Ausdrucksmittel wie das Requisit als Bedeutungsträger, als „Dingsymbol“, oder das Spiel mit Verkleidung bereichern die Anschaulichkeit des Geschehens und seinen Handlungsverlauf. In Hinblick auf ihr satirisches Potenzial werden all diese Aspekte von Agnes Pistorius durch das Gesamtwerk Grillparzers verfolgt.
Allen Hauptwerken (Dramen: Blanka von Kastilien, Die Jüdin von Toledo, Esther, Die Ahnfrau, Sappho, Das goldene Vließ, König Ottokars Glück und Ende, Ein treuer Diener seines Herrn, Des Meeres und der Liebe Wellen, Melusina, Der Traum ein Leben, Weh dem, der lügt!, Ein Bruderzwist in Habsburg, Libussa; Erzählungen: Das Kloster bei Sendomir, Der arme Spielmann) wird dabei ein eigenes Kapitel gewidmet, weitere Kapitel setzen sich mit kleineren Werken, biographischen Aspekten (Kindheit und Jugend, Deutschland-Reise und Begegnung mit Goethe) sowie der Positionierung Grillparzers im Spannungsfeld von Tradition und Moderne auseinander. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Personenregister schließen den Band ab und erleichtern die Benützung.
Als studierte Germanistin mit einer Dissertation über Johannes Urzidil und das Exil (1977) wirkte Agnes Pistorius von 1981 bis 2009 als Kuratorin im Österreichischen Theatermuseum und trat mit zahlreichen Publikationen an die Öffentlichkeit. Ihre Studie Der Satiriker in Grillparzer war nach jahrelanger Forschungsarbeit als Beitrag zum Grillparzer-Jahr 2022 geplant und erscheint nun posthum, nachdem die Autorin kurz nach Abschluss des Manuskripts 2021 völlig unerwartet verstorben ist.