Jenseits der weißen Linie
Dragana Oberst
Im Belgrad der sechziger Jahre zerfällt eine Familie: Janas Vater verschwindet eines Tages, die Mutter wandert nach Deutschland aus, um der Arbeitslosigkeit und Armut in Titos Jugoslawien zu entkommen. Die Kinder bleiben bei einer Pflegefamilie zurück, bevor auch sie voneinander getrennt werden. Das Mädchen wächst auf dem Land auf, bei Großmutter Dara. Die alte Bäuerin kümmert sich rührend um das Kind, doch gegen die anhaltende Sehnsucht nach der verlorenen Familie kann auch sie nichts ausrichten. Erst nach Jahren darf Jana zu ihrer Mutter nach Deutschland reisen. Aber noch ehe sie beginnen kann, die neue Welt verstehen zu lernen, beschließen die Behörden, sie bis zum Schulabschluss zurückzuschicken. Für weitere drei Jahre wird Jana von der Mutter getrennt. Ihre Rückkehr nach Jugoslawien offenbart einen neuen Bruch. Auch unter ihresgleichen ist sie plötzlich eine Fremde. Als das Mädchen Anfang der siebziger Jahre endgültig nach Deutschland zieht, gerät es auf der Suche nach sich selbst in schwere Konflikte.
Die Figur und das Schicksal des Vaters bleiben für das Kind rätselhaft, denn niemand ist bereit, offen darüber zu sprechen. Lange nach seinem Verschwinden soll Jana ihn besuchen, aber der Ort, an dem dies geschieht, ist ein Ort des Schreckens.
Die Intensität des autobiographischen Romans entsteht durch ruhige, fast stille, ungewöhnlich ausdrucksstarke Bilder. Die Autorin konfrontiert den Leser mit der tiefen Verwundung, entstanden an frühen Wendepunkten im Leben eines Kindes und während seiner immerwährenden Suche nach Familie, Heimat und Identität. Sie stellt sich der Wucht des Schmerzlichen, indem sie unaufgeregt und detailkonzentriert schreibt, wann immer sie das real Fürchterliche schildert. Der parallele Entwurf einer uns verlorengegangenen, unverbrauchten Welt bildet dazu einen fesselnden Kontrast.