Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke / Briefsteller
Albert Meier, Christof Wingertszahn
Band 9 der Kritischen Karl Philipp Moritz-Gesamtausgabe macht Moritz’ briefstellerische Werke erstmals wieder zugänglich: die Anleitung zum Briefschreiben (1783) und den Allgemeinen deutschen Briefsteller (1793). Beide Texte sind nur scheinbar pragmatische Nebenwerke des Autobiographen und Autonomie-Ästhetikers. Ähnlich wie Moritz’ Schriften zur Sprachrichtigkeit gehören die didaktisch aufbereiteten Handreichungen zum Verfassen ‚guter‘ Briefe ins Zentrum der Berliner Spätaufklärung, die durch Verbesserung der Breitenbildung das gesellschaftliche Zusammenleben vernünftiger gestalten wollte. Während die kurze Anleitung seinerzeit weitgehend unbeachtet blieb, hat sich der systematisch angelegte Allgemeine deutsche Briefsteller zu Moritz’ zweiterfolgreichstem Werk entwickelt (übertroffen allein von seiner Götterlehre ). Den direkten Anknüpfungspunkt bildet Christian Fürchtegott Gellert, dessen Plädoyer für Natürlichkeit und unverstellten Gefühlsausdruck von Moritz übernommen wird. Moritz verknüpft diese empfindsamen Stil-Postulate jedoch mit seiner autonomieästhetischen Stil-Lehre. Da Moritz im Interesse eines unverfälschten Individualstils sich vor allem auf authentische Briefe stützt und seine Beispiele bevorzugt dem eigenen Alltag entnimmt, sind in den beiden Briefstellern zum einen zahlreiche Briefdokumente zu Moritz’ Vita und Œuvre überliefert; zum anderen bieten die authentischen Musterbriefe einen präzisen Einblick in die hierarchischen Strukturen der preußischen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts. Indem sie die streng reglementierten Anreden und Grußformeln hinterfragen, gewinnen die Briefsteller über ihre Ratgeber-Funktion hinaus eine nachdrücklich feudalismuskritische Dimension. Die kritische Edition von Moritz’ beiden Briefstellern präsentiert zwei von der Literatur- und Sprachwissenschaft bislang vernachlässigte Beispiele einer genuin aufklärerischen Textsorte, deren historische Relevanz ebenso aus der volksaufklärerischen Zielsetzung wie aus dem sozialkritischen Impetus, die Freiheit des Individuums gegen gesellschaftliche Normierung zu behaupten, erwächst.