Kindheit im Krieg und andere Kurzgeschichten
Irmgard Steppuhn
Im zweiten Schulsemester bekamen wir eine neue Klassenlehrerin, Frau Dr. Wolfski. Sie unterrichtete uns in Deutsch, Englisch und Französisch. Sie war eine ganz besondere Persönlichkeit mit einem Pädagogikstil, wie ich ihn bisher nicht kennengelernt hatte, wir alle nicht. Nie sprach sie mit uns vom Katheder aus. Sie setzte sich auf ein Pult in der ersten Reihe, um näher an der Klasse zu sein. Was in einigen Mädchen vor sich ging, vermag ich nicht zu sagen. Sie trachteten danach, sich schlimme Streiche, ja infame Plagen auszudenken, und das nur bei unserer Klassenlehrerin. Bei den anderen Lehrern wagten sie das nicht. Einmal streuten sie Glaspulver, das eine Schülerin aus der Werkstatt ihres Vaters besorgt hatte, auf Tasche und Mantel unserer Lehrerin. Frau Dr. Wolfski wurde schwer krank. Meine Freundin Hilde Hoppenberg und ich machten uns Vorwürfe, das nicht verhindert zu haben. Nein, wir hatten die verantwortlichen Mädchen nicht gestoppt. Wir hatten es zugelassen. Wir hatten geglaubt, das Zeug wirke wie Juckpulver. Wir waren mitschuldig. Wenigstens unser Mitgefühl und unsere Reue wollten wir ihr zeigen und brachten ihr einen Blumenstrauss.
Viele Jahre später erfuhr ich, Frau Dr. Wolfski war Jüdin und hat den Holocaust überlebt.
(aus »Kindheit im Krieg«)