Konfliktpotentiale als Chance
Vorschlag eines Handlungskonzeptes für Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Universitätsstadt Tübingen
Die Universitätsstadt Tübingen ist gut aufgestellt: Eine Vielzahl sehr professioneller, sozialer und städtebaulicher Maßnahmen und eine hohe Bereitschaft zu gesellschaftlicher Partizipation und Engagement der akademisch geprägten Stadtbevölkerung sind nur zwei Beispiele der guten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen.
Seit dem Jahreswechsel 2007/2008 jedoch beobachteten die Verantwortlichen in der Stadt mit Sorge verstärkt auftretende Sachbeschädigungen, Konflikte zwischen feiernden Jugendlichen und Anwohnern oder Auseinandersetzungen um Müll und Lärm. Die Stadt entwickelte ein Maßnahmenpaket zur Eindämmung der Konflikte im öffentlichen Raum. Doch die Fragen der Verantwortlichen gingen tiefer: Wo gibt es grundlegende Konfliktpotenziale in der Stadtgesellschaft? Welche Wechselwirkungen lassen sich feststellen? Wie kann an den tieferliegenden Ursachen gearbeitet werden? Wie können die vorhandenen Bearbeitungsinstrumente zu einer Gesamtstrategie zusammengefügt werden?
Ein Schlüsselthema in der Tübinger Stadtgesellschaft ist das Thema Integration: ‚Integration ist ein komplexer Prozess, der vielerorts zu Spannungen führen kann – auch hier bei uns‘, so Boris Palmer, Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen. Dr. Susanne Omran, Leiterin der Stabsstelle Gleichstellung und Integration führt aus: ‚Wir treffen in unserer Arbeit immer wieder auf Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – benachteiligt fühlen.‘ Für die Stadt ist die Frage von großem Interesse, wie man die Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterstützen kann, ihren Platz in Tübingen zu finden.
Deshalb begrüßten die Verantwortlichen der Stadt den Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft Ziviler Friedensdienst in Deutschland (ArGe ZFDiD), die Situation im öffentlichen Raum zu untersuchen und ein Handlungskonzept zu entwickeln. Gemeinsam wurde ein Antrag auf Fördermittel beim Europäischen Integrationsfonds (EIF) und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingebracht. Die Erarbeitung des Handlungskonzepts legte die ArGe ZFDiD, nachdem die Bewilligung der Finanzierung erfolgt war, in die Hände ihrer Mitgliedsorganisation Forum Ziviler Friedensdienst e.?V. (forumZFD). Im März 2010 nahm das Projektteam des forumZFD um die Soziologin, Psychologin und Kriminologin Sylvia Lustig die Arbeit in Tübingen auf.
Die Umsetzung des Projekts unter dem Titel ‚Integration fördern – Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken‘ erfolgte nach den Prinzipien der ‚Kommunalen Konfliktberatung‘. Kern von ‚Kommunaler Konfliktberatung‘ ist der Einsatz von externen und speziell qualifizierten Konfliktberatungsteams und deren zielgerichtete Verzahnung mit den lokalen Akteuren in der Kommune. Das forumZFD ist nicht Teil der Tübinger Stadtgesellschaft. Diese Außenperspektive ermöglichte einen anderen Blick auf die aktuelle und zukünftige Lage der Stadt und konnte helfen, neue Netze zu knüpfen.
Das Handlungskonzept wurde in einem aktivierenden Beratungsverfahren erarbeitet. Das Team des forumZFD verschaffte sich anhand des verfügbaren Datenmaterials einen Überblick und führte zahlreiche Hintergrundgespräche mit den beteiligten Akteuren in Tübingen. Bewusst wurden die Akteure vor Ort in die Erarbeitung des Handlungskonzepts einbezogen. Es galt, die Handlungsempfehlungen nicht im luftleeren Raum zu entwickeln, sondern gemeinsam mit denjenigen, die an der Umsetzung mitwirken bzw. von ihnen betroffen wären. Dazu zählen z.?B. Sozialarbeiter und Anwohnerinnen, Verwaltungsmitarbeiterinnen und Polizisten?– mit und ohne Migrationshintergrund, Deutsche wie Ausländer. Mit den zuständigen Stellen in der Verwaltung der Stadt Tübingen wurde ein Lenkungskreis gebildet. Auf diese Weise konnten die Teilergebnisse der Untersuchung im regelmäßigen Fachaustausch zwischen Stadtverwaltung und forumZFD weiterentwickelt und so bereits Voraussetzungen für Umsetzungsschritte geschaffen werden.
Die hiermit vorliegende Studie mit dem Titel ‚Konfliktpotenziale als Chance. Vorschlag eines Handlungskonzepts für Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Universitätsstadt Tübingen‘ versteht sich als Handreichung, die es den handelnden Personen auf den unterschiedlichen Ebenen der Tübinger Stadtgesellschaft erleichtern soll, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Integration konfliktsensibel zu gestalten. Das Konzept will ein Beitrag zum Diskurs über die Ausgestaltung des Integrationsprozesses in Tübingen sein und dazu Anregungen geben.
Tübingen hat eine im Städtevergleich außerordentlich gute Ausgangsposition. Wie die Studie zeigt, sind die bestehenden Spannungen bei entsprechender Bearbeitung beherrschbar – und eine Chance: eine Chance, die tiefergehenden Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens im ‚Migrationszeitalter‘ anzugehen; eine Chance Tübingen mit ausgewählten Quartieren zu einem Vorbild auf diesem Gebiet zu machen. Aus Sicht des Projektteams des forumZFD und der Verantwortlichen der Stadt haben insbesondere einige Bereiche der Südstadt das Potenzial, zu Modellquartieren für Integration und Inklusion zu werden. Hier wurden in den letzten Jahren gezielt räumliche und städtebauliche Maßnahmen zur interkulturellen und sozialen Durchmischung der Bevölkerung umgesetzt. Die bewusste Ansiedlung einer heterogenen Bewohnerschaft ist auf einem guten Wege. Die bereits vorhandenen Strukturen ermöglichen es, Vernetzung zu festigen und eine neue Qualität des interkulturellen Miteinanders einzuführen, die nachhaltige Auswirkungen auf das Zusammenleben im Gebiet haben. Um die ersten Erfolge nachhaltig zu sichern, hat die Stadt das forumZFD gebeten, den Gesamtprozess in den Quartieren im Tübinger Süden über das Jahr 2010 hinaus fachlich zu begleiten.
Die vorliegende Studie bietet Anregungen für die mittel- und langfristige Planung und Projektpraxis und für eine konfliktsensible Ausrichtung der Integrationsarbeit – in Tübingen, aber auch darüber hinaus. Dafür möchten wir dem Projektteam um und mit Sylvia Lustig herzlich danken. Unser besonderer Dank gilt unseren Partnern bei der Durchführung des Projekts: der Universitätsstadt Tübingen – und hier insbesondere der federführenden Stabsstelle Gleichstellung und Integration, dem Fachbereich 5 ‚Familie, Schule, Sport und Soziales‘ und dem Fachbereich 3 ‚Bürgerdienste‘ – sowie dem Europäischen Integrationsfonds (EIF) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Ohne ihre tatkräftige, fachliche und nicht zuletzt finanzielle Unterstützung wäre die Durchführung dieses Projekts nicht möglich gewesen.
Integration ist ein Schlüsselthema der Kommunalpolitik. In der Kommune werden die Erfolge, aber auch die Probleme von Zuwanderungs- und Integrationsprozessen am deutlichsten spürbar. Diese Herausforderungen gilt es kraftvoll und visionär anzupacken.
Tübingen, im Dezember 2010