Kreisau neu gelesen
Annemarie Franke, Krzysztof Ruchniewicz, Sabine Stekel
Die in diesem Band versammelten Aufsätze wurden von Krzysztof Ruchniewicz zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf Polnisch geschrieben und stehen im Kontext der polnischen Rezeption des Themas. Der Autor beschäftigt sich mit dem Kreisauer Kreis und den deutsch-polnischen Beziehungen seit über 20 Jahren als Historiker und Hochschullehrer. Ich habe über zehn Jahre lang als Leiterin der Gedenkstätte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung mit dieser Geschichte gelebt und 2017 meine Doktorarbeit zur Genese der Stiftung im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen seit den 1970er Jahren, betreut von Prof. Krzysztof Ruchniewicz an der Universität Wrocław, veröffentlicht.
Aus eigener Erfahrung mit Vorträgen und Führungen über und in Kreisau / Krzyżowa weiß ich, wie das Thema Kreisauer Kreis und deutscher Widerstand je nach Publikum anders dargestellt sein will, damit Interesse und Empathie geweckt werden können. Selbstverständlich habe ich mit deutschen Besuchern anders darüber gesprochen, als mit polnischen oder internationalen Gästen. Generell war meine Erfahrung, dass die polnischen Besucher sehr viel mehr über die deutsche Geschichte wissen als umgekehrt. Dementsprechend war das Interesse an dem weniger bekannten Kapitel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, dem Phänomen des deutschen Widerstands im Unterschied zum polnischen Widerstand, groß.
Kreisau liegt heute in Polen, aber bis 1945 war es von Deutschen bewohnt und gehörte politisch zum Deutschen Reich. Viele Besucher der Gedenkstätte kommen aus der Motivation heraus, das historisch deutsche Schlesien wiederzusehen oder kennen zu lernen. Aber der Ort lässt nicht zu, dass Nostalgie oder Verklärung der „guten alten Zeit“ aufkommt. In Krzyżowa ist man vermittelt über die Schicksale der polnischen Menschen, die sich heute in Kreisau engagieren, dort leben und arbeiten, automatisch konfrontiert mit den Ursachen für Vertreibung, Grenzverschiebung und Zwangsumsiedlung. In jeder polnischen Familie gibt es Opfer der deutschen Besatzung und des Kriegsgeschehens.
Ich würde mir wünschen, dass die Aufsätze von Krzysztof Ruchniewicz in diesem Band das deutsche Publikum wahrnehmen lassen, was es für einen polnisch sozialisierten Historiker bedeutet, sich auf das Thema Kreisau einzulassen. Welche Aspekte sind ihm wichtig, wo forscht er nach, mit welchen Referenzen zur eigenen Geschichte stellt er die Vorgänge dar? Dadurch erhält der deutsche Leser die Chance nachzuvollziehen, wie sich der Autor „unsere“ Geschichte aneignet, deren Schauplätze heute in seiner Heimat Dolny Śląsk Niederschlesien liegen.
Die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau ist heute ein wichtiges Symbol für die deutsch-polnische Versöhnung und für das neue Kapitel in den gegenseitigen Beziehungen, das seit 1989 fortgeschrieben wird. Die hier versammelten Aufsätze von Krzysztof Ruchniewicz rufen ins Gedächtnis, wie vielschichtig das kulturelle und historische Erbe ist, das die Grundlage für die Symbolkraft des Ortes bildet.
(aus dem Nachwort von Annemarie Franke)