Latente Stigmastrukturen von Sexualterror
Eine biographieanalytische Untersuchung zum sozialen Umgang mit Massenvergewaltigungen zum Ende des Zweiten Weltkrieges
Silke Kassebaum
Massenvergewaltigungen sind Sexualterror und Ausdruck von Gewalt im Geschlechterverhältnis. Im Kontext von Krieg und kriegerischen Konflikten werden sie als strategische Kriegswaffen eingesetzt. Sie haben eine kommunikative Funktion zwischen Kriegsgegner*innen und sind systematische Menschenrechtsverletzungen. In Deutschland wurden Massenvergewaltigungen durch alliierte Besatzer im Verlauf der Nachkriegszeit für die Remaskulinierung der Gesellschaft instrumentalisiert und letztendlich beschwiegen. Sie sind somit kein isoliertes historisches Ereignis und ihre Folgen und der soziale Umgang mit ihnen können nur unter Prozessperspektive hinreichend verstanden werden.
Die vorliegende Studie untersucht, wie sich der soziale Umgang mit Massenvergewaltigungen aus Subjektperspektive darstellt und rekonstruiert auf der Grundlage lebensgeschichtlicher Interviews mit überlebenden Frauen die wechselseitige Beeinflussung individueller und kollektiver Prozesse. Dabei geben die Studienerebnisse Aufschluss über die Strukturreproduktion und Transformation von Sexualterror und die Beständigkeit hierarchischer Geschlechterverhältnisse.
Als ursächlich für die stete Reproduktion und
den stets schwierigen Umgang mit Sexualterror werden latente Strukturzusammenhänge angesehen, die Interaktionsprozesse bedingen und Sexualterror zum generellen Modus sozialer Klassifikation machen. Diese latenten Stigmastrukturen von Sexualterror prägen als ungewusstes routiniertes Handeln soziale Interaktionen und Identitätsbildung trotz der kritischen Diskussion und Transformation gesellschaftlicher Normen und Werte. Das Aufdecken dieser objektiven Strukturzusammenhänge in Folge von Sexualterror ermöglicht ein Verständnis für die Langlebigkeit und Stabilität von Geschlechterhierarchien in modernen Gesellschaften und wird hiermit erstmals zur Diskussion gestellt.