Lehrbuch der Psychiatrie
Eugen Bleuler, Manfred Bleuler
einflüssen. Die angeborenen Reaktionsbereitschaften werden vielfach erst durch das Erleben der Umwelt geprägt. Auch beim Tiere können Erregung und Aktivität, die ursprünglich dem einen Triebe galten, auf einen anderen überspringen. Triebversagung führt zu außerordent lichen Stimmungen und stereotypen Handlungen. Triebkonflikte können zu unnatürlichem und zweckwidrigem Verhalten führen. Sogar Regressionen kom~~m im Tierreich vor. Im Gegensatz zu den alten psychoanalytischen Anschauungen und in Ubereinstimmung mit der neueren menschlichen Psychologie zeigt sich am Tiere auch, daß die sexuellen Triebe zwar mächtig, aber keinesfalls allein ausschlaggebend sind. Neben den sexuellen gibt es zahllose andere biologisch verwurzelte Triebrichtungen, und zwar nicht nur solche, die bloß der Er haltung des Individuums dienen (Hunger, Durst, Vermeidung von Schmerz usw. ), sondern auch solche, die das soziale Leben regeln (Trieb, gewisse Distanzen zwischen Individuen einzuhalten, sich unter Kämpfen in eine Rangordnung der Artgleichen einzureihen, Brut pflegeinstinkte usw. ). Es kann keine Rede mehr davon sein, daß nur den sexuellen unter allen sozialen Trieben biologische Wurzeln zukämen und alle andern sozialen Regungen nur künst lich anerzogen würden. Kapitelzusammenfassung Die heutige Psychiatrie betrachtet die Psyche nicht mehr als etwas für sich Bestehendes und Stabiles. Vielmehr berücksichtigt sie, daß die Psyche eines Menschen während des ganzen Lebens einer Entwicklung unterworfen ist. Die psychische Entwicklung erfolgt auf Grund von angeborenen Reaktionsbereitschaften untrennbar verbunden mit der körperlichen Entwicklung und mit der persönlichen Lebenserfahrung.