Lehren und Lernen – aber wie?
Ein Studienbuch für das Lehramt
Martin Wellenreuther
Jeder weiß, was guter Unterricht ist. Wirklich? Wer in Deutschland eine Lungenentzündung hat, erhält in der Regel ein hochwirksames Medikament, das in vielen experimentellen Studien hinsichtlich seiner Wirksamkeit getestet wurde. Die Verabreichung eines unwirksamen Präparats gilt als Kunstfehler. Was für die Medizin gängige Praxis ist, stößt in der Pädagogik auf Widerstand. Viele Grundschullehrer setzen immer noch die Reichen-Methode „Lesen durch Schreiben“ voller Überzeugung im Lese- und Schreibunterricht ein, obwohl diese Methode leistungsschwächeren Schülern schadet! Ohne stichhaltige empirische Belege werden in Deutschland offene Methoden wie Frei- und Projektarbeit, Werkstattunterricht, Wochenplan, und Stationenarbeit als progressive Methoden praktiziert. Diese progressiven Methoden sollen am besten die Heterogenität der Schüler berücksichtigen. Schüler sollen durch diese Methoden am besten lernen, selbständig zu arbeiten. Wenn Verständnisschwierigkeiten auftreten, können andere Schüler helfen; nur im Notfall hilft der Lehrer. Wie viele Lehrer sich gegenseitig bestätigen, wird dieser Ansatz am besten der großen Heterogenität der Schüler gerecht. Eigentlich weiß man es besser: Schließlich wurden in den letzten Jahrzehnten zu den Prozessen schulischen Lernens tausende Experimente durchgeführt. Danach fördern Lehrer ihre Schüler tatsächlich am besten, wenn sie die Rolle eines Regisseurs des Lernens, und nicht nur die Rolle eines Lernberaters übernehmen. Wo sind denn die empirischen Belege dafür, dass Schüler durch oberflächliches Bearbeiten von Arbeitsblättern mehr lernen als durch direktes Instruieren? Vor gut 20 Jahren habe ich mir solche Fragen gestellt und – vergebens – nach hieb- und stichfesten empirischen Belegen für die Überlegenheit „progressiver“ Methoden gesucht. Eigene Studien zur langen Stationenarbeit bestätigten meine Befürchtung: Die „progressive Methode“ lange Stationsarbeit führte im Vergleich zu direkter Instruktion zu völlig unbefriedigenden Lernergebnissen. Nur in Doppelstunden geblockte, segmentierte Stationenarbeit führte zu ähnlich guten Ergebnissen wie direkte Instruktion. Einiges spricht dafür, dass durch die offenen, entdeckenden Methoden die schwächeren Schüler aus bildungsfernen Schichten benachteiligt werden. Bei diesen Schülern können die Eltern die Schwächen des schulischen Lehrangebots nicht kompensieren. Seit der ersten Auflage von „Lehren und Lernen – aber wie?“ sind vor allem in den USA viele weitere experimentelle Forschungen zu den Grundlagen des Lehrens und Lernens, zu Bedingungen, unter denen Gruppenarbeitsmethoden oder Hausaufgaben lernwirksam sind, zur Qualität des Unterrichts, zu Fragen effektiven Übens und Förderns, zur Wirkung von Tests sowie zur Wirkung von Feedback durchgeführt worden. Diese Forschungen wurden in der völligen Neubearbeitung von „Lehren und Lernen – aber wie?“ berücksichtigt. Im Unterschied zu Hattie’s „Visible Learning“ stützt sich „Lehren und Lernen – aber wie?“ vor allem auf experimentelle Forschungen. In Bereichen, in denen sich „Meta-Analysen“ überwiegend auf experimentelle Forschungen stützen (z. B. zur „direkten Instruktion“), komme ich zu ähnlichen Folgerungen wie Hattie. In anderen Bereichen (z. B. Methoden der Gruppenarbeit, Hausaufgaben) ergeben sich große Differenzen. Viele Meta-Analysen, auf die sich Hattie hier stützt, wie z. B. die Meta-Analysen zum kooperativen Lernen, zur Lernwirksamkeit von Hausaufgaben sowie zum erkundungsbasierten Lernen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Hoffentlich führt eine offene Diskussion solcher problematischer Analysen dazu, dass Pädagogik eine normale Wissenschaft wird: Eine, die neue Methoden erst sorgfältig prüft, bevor diese in Schulen weitflächig eingesetzt werden.