Man sol mich hubschen luten lesen
Die mittelalterliche Kunst der abstrusen Belehrung in neuen Übertragungen
Silvia Jurchen, Silvan Wagner
Ein Pfarrer, der gleich fünfmal getötet wird; eine Dame, die ihren Ehemann
betrügt und zurückgewinnt, indem sie ihn – als Mann verkleidet
– verführt; eine Mutter, die Jesus als Geisel nimmt, um himmlische
Hilfe für ihren Sohn zu erpressen.
Die kurzen Erzählungen des Mittelalters leben von abstrusen Begebenheiten
und absonderlichen Geschicken. Eines haben sie aber alle
gemein: das Ziel, eine alltagspraktische Lehre zu vermitteln. Und um
dieses Ziel zu erreichen, gehen die Geschichten über Leichen, brechen
Tabus und stellen Gott und die Welt in Frage.
Die Spannungen zwischen einer oft sprichwörtlichen Lehre, die es zu
vermitteln gilt, und einer verqueren Geschichte, die ihr fragwürdiges
Vehikel darstellt, irritieren auch heutige Leser noch nachhaltig. Und
gerade aus dieser Irritation schöpfen die kurzen Geschichten ihr Potenzial:
Eine Lehre, die sich nur unter enormen Windungen zu ihrer
Geschichte fügt, bleibt im Gedächtnis haften, lebendig, schillernd und
alles andere als ein toter Gemeinplatz.
Mit den Wiedererzählungen gewähren ExpertInnen für vormoderne
Kleinepik auch Einblicke in ihre je eigene Beziehung zu den Texten,
mit denen sie ganz persönliche Geschichten verbinden.