Materialistische Bibellektüre und Bibelexegesen
Gesammelte Schriften, Band 1
Kuno Füssel, Maria Klemm, Odilo Noti, Michael Ramminger
Das Christentum ist eine Buchreligion, d. h. in seinem Zentrum steht ein Buch, die Bibel. Die Lektüre dieses Buches erhält damit eine für verschiedene Ebenen – Praxis, Lehre, Institution – grundlegende Wichtigkeit.
In der christlichen Tradition haben sich verschiedene Umgangsweisen mit der Bibel herausgebildet, je nachdem unter welcher Perspektive man sich ihr näherte … Lässt sich für eine materialistische Bibellektüre innerhalb dieses allgemeinen Spektrums überhaupt ein Platz angeben?
Eine materialistische Lektüre der Bibel ist gekennzeichnet durch die Auffassung, dass die Tiefenstruktur der Bibel bestimmt ist von Prinzipien, die verlangen, dass in der Auseinandersetzung zwischen Leben und Tod immer die Partei des Lebens ergriffen wird, dass im Kampf der gesellschaftlichen Klassen immer auf Seiten der Unterdrückten zu kämpfen ist, dass Herrschaft und Ausbeutung einer geschwisterlichen Gemeinschaft zu weichen haben, dass zuerst den Armen, d.h. nicht nur den finanzielle Minderbemittelten, sondern denjenigen, denen das Recht verweigert wird, Personen zu sein, die frohe Botschaft von der Erfüllung ihrer Sehnsucht gebracht wird. Entsprechend spielen in dieser Tradition besonders jene Texte der Bibel eine herausragende Rolle, die auch in ihrer Oberflächenstruktur dieses Programm deutlich bekunden, also vor allem die Texte der Propheten und die Erzählungen von der Praxis Jesu.