Matrikel
Zur Haltung des Schreibens in Robert Walsers Mikrographie
Martin Roussel
Robert Walsers Mikrographie aus den 1920er Jahren führt an die Grenzen des Lesbaren: Bis auf ein bis drei Millimeter verkleinert Walser mit dem Bleistift auf den überlieferten 526 Zetteln seine Handschrift, als schriebe sie sich ins Papier hinein, und, umgekehrt, als kehrte sich das Papier nach Außen, um in der Schrift erst sichtbar zu werden. Zu lesen sind die Mikrogramme als Entwürfe, Skizzen im Kontext von Walsers ›Abschreibesystem‹: Walser selbst hat der Mikrographie vom Standpunkt seiner Reinschriften mit Tinte aus den Status eines ›Umweges‹ zugesprochen. Damit kommt ihnen eine kreatologische, insinuierende Funktion zu, als könnte seine Literatur, mit Tinte ins Reine abgeschrieben, ihre Worte direkt vom mikrographisch flimmernden Papier ablesen. Walsers Satz ‚Schreiben scheint mir vom Zeichnen abzustammen‘ entfaltet hierin seine Bedeutung nicht als Genealogie, sondern als Reflexion des eigenen Handelns, als Ethologie, die Schreiben als Abschreiben begreift und die Mikrographie als Einzeichnung auf dem Papier – eine Literatur des Papiers im Zeichen der Schrift. Die Metaphorik des Blätterflüsterns – der Insinuation – suggeriert in diesem Sinn eine Bedeutung der Mikrographie, die dieser ex post – im Abschreiben – erst zukommt, im Entzug ihrer Lesbarkeit.
Walsers in der literarischen Moderne singuläres Schreibexperiment verdichtet sich in den konkreten Zügen seiner Mikrographie. Die ‚Matrikel‘ verzeichnet seine Haltung des Schreibens; sie versucht die Voraussetzungen, Implikationen und interpretatorischen Konsequenzen, die aus dieser Literatur zu ziehen sind, in Überlegungen zu einer Theorie der Schrift aufzufangen, die nicht semiotisch, sondern ethologisch fundiert ist und insbesondere etho-ästhetischen Fragestellungen zwischen Text und Bild sowie zwischen Stimme und Schrift Raum gibt. Die Überlegungen Michel Foucaults zur ›Ethopoiesis‹ sowie Jacques Derridas zum ›trait‹ (Strich / Zug / Einfall) geben hierbei die Leitbegriffe vor. Im Sinne eines Verzeichnisses der Abweichungen und Idiomatien, die Walsers Literatur ausmachen, bemüht sich die ‚Matrikel‘ den theoretischen Ertrag durchgängig in Detaillektüren fruchtbar zu machen – dabei beides berücksichtigend: die konkreten Gegebenheiten des Materials wie die Notwendigkeit interpretatorischer Zu- und Einschnitte. Als Fluchtperspektiven bieten sich in ethologischer Hinsicht Robert Walsers ‚Gesundheitslehre der Schrift‘ an sowie, mit Blick auf Walsers eigentümliche ‚Zurück-Haltung‘ des Schreibens, die Metaphorik des Blätterflüsterns als Rahmungen für Walsers Mikrographie. Überlegungen zur Relevanz graphologischer Deutungen sowie ein Ausblick auf mikrographische Traditionen schließen die Arbeit ab.