Mehr Demokratie mit Kultur und Bildung wagen
Ein kritischer Blick auf 100 Jahre Volkshochschulen
Jörg Wollenberg
„Traditionen sind keineswegs das Privileg konservativer Kräfte. Noch weniger gehören sie in die Erbpacht von Reaktionären, obgleich diese am lautstärksten von Ihnen reden.“ Gustav Heinemann hat als Bundespräsident Anfang1970 mit dieser Aussage eine neue Richtung für den öffentlichen Umgang mit der deutschen Geschichte empfohlen. Er hat dabei verwiesen auf die deutsche Revolution von 1848, aber auch auf die Freiheitsbewegung, die dieser vorausgingen, auf den Vormärz und auf die „deutschen Jakobiner.“ Das Interesse an den demokratischen Strömungen in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution verdankte er einer Begegnung mit dem aus Wien stammenden israelischen Historiker Walter Grab.
Grab war einer meiner engsten Mitstreiter in meinen Bremer und Nürnberger Jahren. Er hatte die in Vergessenheit geratenen norddeutschen Jakobiner zusammen mit den Leipzigern um Walter Markov und Heinrich Scheel wiederentdeckt und viel darüber publiziert. „Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern nicht zum Geschenk erhalten“, schrieb 1798 Georg Friedrich Rebmann. Er setzte nicht auf „Fremdbefreiung“ durch eine Revolutionsarmee eines anderen Volkes, sondern plädierte für die Beseitigung rückständiger traditioneller Mächte durch das eigene Volk.
Als wir den 140 Jahrestag der Wiederkehr dieser Ereignisse zum Schwerpunktthema im Nürnberger Bildungszentrum wählten, schrieb Walter Grab mir: „Wäre die Revolution von 1848 geglückt, so hätte es keinen Bismarck, keine fünf Angriffskriege von 1864, 1866, 1870, 1914 und 1939, keine Naziherrschaft und keinen Judenmord gegeben“. Warum aber war der Weg der Deutschen zur Demokratie immer auch auf die Befreiung durch fremde Mächte angewiesen und welche Folgen ergaben sich daraus für die Kultur-und Bildungsarbeit? Warum ging die Erinnerung an die frühen Lesegesellschaften der deutschen Jakobiner verloren? Sie realisierten erste Ansätze einer autonomen Volksbildung in deutschen Provinzen, die man auch zu den Gründern der deutschen Volkshochschulen zählen sollte. So zum Beispiel in Hamburg mit der Lesegesellschaft von 1792 oder der jüdisch-christlichen Freimaurerloge „Einigkeit und Toleranz“ von 1793.
Im damals dänischen Altona und Flensburg wurden ebenfalls Jakobiner-Klubs gegründet. Am 31. Oktober 1792 forderten sie die Berliner Bevölkerung auf, mit Flugblättern gegen die „Tyrannei“ der Preußen aufzubegehren: „Brave Bürger! Ihr schlaft und die Tyrannei schwebt über euren Köpfen… Ehre sei der Freiheit, der Gleichheit, der Einigkeit und der Tugend“. (vgl. Walter Grab, 1984, S. 341)